juni-juli 2004

gelesen

Bücher

Paul Verhaeghe

Liebe in Zeiten der Einsamkeit.

Drei Essays über Begehren und Trieb

Turia+Kant 2003

„Das Begehren ist etwas Seltsames: Man begehrt/will immer das, was verboten, unerreichbar, ungesund ist. Vor allem jedoch verboten.“

Der belgische Psychoanalytiker Paul Verhaeghe hat seinen Lacan (und auch Freud, jedoch ohne dessen logozentristisch, patriachal-monotheistische Theorieansätze) gründlich gelesen. Und das ist gut so, denn entlang von Begriffen wie Instinkt, (Sexual-)Trieb, Genießen, Begehren gelingt hier nicht weniger als der wohl politischste „Ratgeber“ in Sachen „the thing called love“ der letzten Jahrzehnte. Vor allem die (erneut) weit verbreiteten „reduktionistischen biologistischen Modelle“ die so gerne von TV-PsychologInnen und SexualtherapeutInnen wie Gerti „I Like Neandertal Men“ Senger (aber auch von linken EssentialistInnen) propagiert werden (und die so etwas wie „kulturelle Regelungen“ oder „soziales Reprogramming“ nicht kennen bzw. ignorieren), zerlegt Verhaeghe bis in ihre dümmsten (aber leider auch wirkungsmächtigsten) ideologischen Klischees.

Etwa wenn er zeigt, dass bei Fragen nach der (männlichen) Polygamie immer „irgendeine Affenart“ oder eine „wenn möglich einige Jahrtausende zurückreichende“ Kultur als Beweis/Untermauerung gefunden wird oder schlicht (siehe gerti Senger) auf das steinzeitliche „Reptilienhirn“, in dem angeblich alle Urinstinkte seit Urzeiten genetisch gespeichert sind verwiesen wird. Männer sind dann halt von Natur aus so, wie sie sind, und können einfach nicht anders.

Aber Verhaeghe geht es auch um die problematischen Effekte sexualwissenschaftlicher Untersuchungen (etwa jenen von Masters & Johnson) und ihren neuen „Verordnungen und Vorschreibungen“ wie etwa der Verpflichtung zum weiblichen Multiorgasmus („Der Traum jeden Mannes.“) – auch als Reaktion auf die Befreiung/Emanzipation der Frau und der Erotik. Lacanisch-dialektisch ausgedrückt: „Während der Mann sich verzweifelt bemüht, seinen Orgasmus zurückzuhalten, versucht die Frau, nicht weniger verzweifelt, ihn voranzutreiben.“

Ein Umstand, durch den das Begehren (oder der Wunsch nach sexueller Befreiung) rein auf „sexuelle Techniken“ (also auf Sport und Taktik) und den „Mythos von den erogenen Zonen“ reduziert wird.

Das Problem ist nur: Ohne Begehren sind diese Zonen „wertlos“, ist jedoch „Begehren im Spiel wird alles erogen“, so Verhaeghe über das In-Liebe-Fallen. Und gegen den Fundamentalismus des „die Frau/der Mann an sich“ („Ich als Frau/Mann“) hat Verhaeghe – ganz im Sinne queren Denkens – auch einen psychoanalytischen Rat: „Fragmentierung bewahrt uns vor der Gefahr, die von totalitären Systemen – im politischen-ideologischen Sinn des Wortes ausgeht.“ Denn: „Die Entfremdung ist für den Menschen konstitutiv.“ Oder wie einst Rimbaud sagte. „Ich ist ein Anderer.“

Die idealste Urlaubslektüre für Pärchen jeglicher Art.

Didi Neidhart

René Martens

Scheiß-Fußball

Was echte Fans so richtig ärgert.

Frankfurt/Main 2003, Eichborn Verlag

Das Szenario ist altbekannt: Immer vor Fußball-Großereignissen beginnt ein großes Lamento über die Auswirkungen akuter Kick-Abhängigkeit.

Beziehungen werden auf harte Proben gestellt, die Menschheit auf dem gesamten Globus teilt sich in Anhänger und Verweigerer der Balltreterei. Es gibt Statistiken, die belegen, dass während dieser Großevents die Zahl der Kinderzeugungen stark zurückgeht. Verweigerung gibt es also auch in den Teepausen und Entspannungsbecken. Was die Fraktion der völlig Unverständigen dabei übersieht, ist die schwere Prüfung, die ein Leben als Fußball-Junkie dem echten Fan auferlegt.

Der Hamburger Journalist René Martens (SZ, „Konkret“, „Jungle World“ ...) hat diese „ewige Hassliebe der Fans zum Fußball“ nun schön kompakt und übersichtlich zusammengefasst. In elf Kapiteln handelt er die gesamte Bagage rund ums Wuchtelgewerbe ab (mit all den spezifischen Erscheinungsformen einer auf maximalen Profit, Event„kultur“ und nichtssagende Phrasendrescherei konditionierten Parallelwelt). Und schiebt dabei selber eine schöne Wuchtel nach der anderen. Die zum Erbrechen reizenden Nudlaugen werden vom Autor ebenso fachmännisch wie unerbittlich abgegrätscht: Spielerfrauen (nicht nur platinblonde), Schiedsrichter, Umfeld, Paten („Diktatorensöhnchen, Krokodilliebhaber und andere edle Ehrenmänner“), Vereine (Martens ignoriert Strohsacks Austria Wien genauso wie Kartnigs Sturm Graz, wohl um ihrer internationalen Bedeutungslosigkeit gerecht zu werden), Stadien, Millionäre (damit sind die „Spieler“ gemeint), Fans, Regeln, Fernsehen und knapp vor Abpfiff noch ein Pressschlag gegen die restlichen Nervtöter und Sperenzchen, die sich immerhin kein eigenes Kapitel ergaunern konnten. Die rote Karte, noch besser lebenslange Sperren für all diese Spielverderber. Großer Outwachler, übernehmen sie! Ein ebenso anekdotenreiches wie witziges Buch über „das schönste Ärgernis der Welt“.

Doc Holliday

B.A.F.F. (Hrsg.)

Ballbesitz ist Diebstahl

Fußballfans zwischen Kultur und Kommerz

Göttingen 2004, Verlag Die Werkstatt

Wer immer noch dem fatalen Glauben anhängt, dass Fußball lediglich ein interaktives Ding zwischen 22 Verrückten und einem Ball darstellt, dem kann geholfen werden. Anstatt sich auf ein ermüdendes Geplänkel über scholastische Betrachtungsweisen einzulassen, setzt das AutorInnenkollektiv rund um das Bündnis aktiver Fußballfans kurz B.A.F.F. den Steilpass hinein in die vermeintlich große (Fan-)Welt rund um den kleinen Ball. Fußball und die damit untrennbar zusammenhängende Fankultur sind längst in der Mitte der Gesellschaft angekommen, wobei diese banale Erkenntnis die Tatsache nicht verschleiern kann, dass die siamesischen Zwillinge geradezu mit Kapitalismus und Globalisierung einhergehen, ja mehr noch deren Spiegelbild sind. Ständige Konzentration, Killerinstinkt, sich durchsetzen und „nichts ist scheißer als Platz zwei“ klingt nicht wirklich gut, doch wo viel Schatten dort auch Sonne.

Entgegen der Entwicklung hin zur genormten, ökonomisch verwertbaren, lebenden Fanattrappe regt sich schon des längeren beharrliche Renitenz, wofür die zahlreichen Kapitel Zeugnis ablegen. Sei es die internationale Vernetzung diverser Faninitiativen und -projekte im Netzwerk Football against Racism in Europe (FARE), die Kommunikationsguerilla in Aktion für den Pay-TV-Decoder-Boykott oder der Fanmarsch durch die Vereinsinstitutionen am Beispiel des FC St. Pauli. Ausflüge in den manchmal skurril anmutenden subkulturellen Mikrokosmos wie der Fanzineszene mit Titeln „Um halb vier war die Welt noch in Ordnung“ zeugen von unbeirrbarer Leidenschaft.

Kleinster gemeinsamer Nenner dabei ist das Selbstverständnis, dass es die Fans sind, die Fußball erst zum Spektakel machen, und dies gehört mit all seinem Facettenreichtum definitiv auch zwischen zwei Buchdeckeln festgehalten.

Wolfgang Drechsler