september-oktober 1998

Gudrun Seidenauer
gelesen

LILY BRETT

Einfach so. Deuticke, Wien-Münschen 1998, 446 Seiten

Schreiben sich Lebensgeschichten voriger Generationen mit ihren Brüchen und Ungereimtheiten in unserem Leben weiter? Tragen wir deren Lasten und auch deren Privilegien? Die Idee des autonomen Selbstentwurfs ist freilich die Verlockendere. Sie ist nur nicht wahr. Lily Bretts Buch »Einfach so« zeigt auf verblüffende Weise, wie sich, scheinbar paradoxerweise, überraschende Tiefensichten und ein weiter Blick auf das Leben eröffnen, (Selbst-)Ironie und ein weiter Blick, obwohl Geprägt- und Gefangensein in der traumatischen Geschichte der vorigen Generation(en) das Leben gezeichnet haben. Und auch dies ein scheinbares Paradox: Erst in der Akzeptanz einer kaum lösbaren Verflechtung entsteht eine »eigene« Geschichte, die von der der Elterngeneration unterschieden ist. Lily Brett hat eine solche überzeugende und kraftvolle eigene Geschichte geschrieben, deren Eigenart eben darin besteht, im bannenden Schatten der Geschichte zu stehen. Ihr Alter Ego Esther ist die kurz nach Kriegsende in Deutschland geborene Tochter polnisch-jüdischer Auschwitz-überlebender. Die Familie emigriert nach Australien, von dort übersiedelt Esther mit ihrem Mann, einem erfolgreichen Maler, und ihren Teenager-Töchtern nach New York. Ihren Lebensunterhalt verdient sie sich mit dem Verfassen von Nachrufen für Prominente. Natürlich ist Esther neurotisch, natürlich seit Jahren in Analyse. Sie lebt zum Teil in der Vergangenheit, die ihr dennoch fremd bleiben muß, weil es nicht die ihre ist, bewegt sich in einem komplizierten Geflecht aus fragilem Glück und unverrückbarem Unglück, aus Sinnlichkeit, Wärme und ständiger Wachsamkeit. Ihr Lebensgefühl ist von vergeblichen Versuchen des Umgangs mit Ungeheuerlichem geprägt. Sie hat zweihundert Bücher über den Holocaust. Sie weiß fast alles darüber, was es aus Büchern zu wissen gibt. Ihr Wissen und Nichtwissenkönnen darüber verweben sich mit dem Alltag. Vielleicht um in lebenslanger Arbeit, dem hundertfach gehörten Satz ihrer Mutter bei Auseinanersetzungen: »Du wirst nie verstehen, was wir durchgemacht haben!« endlich die Berechtigung zu entziehen. Der Vater führt nach dem Tod seiner Frau ein unauffälliges Rentnerleben mit Hund in Melbourne. Die Kommunikation zwischen Vater und Tochter ist von großer Nähe und tiefer Verständnislosigkeit zugleich geprägt. Lily Brett erzählt Esthers - ihre - Geschichte ohne Pathos, mit einer Sensibilität, die den Opfern ihre Würde beläßt und den Respekt vor der Unteilbarkeit und oft auch Unsagbarkeit ihrer Erfahrung aufrechthält. Dabei bringt Lily Brett die wenig manifesten beschädigenden Wirkungen auf die nächste Generation auf unprätentiöse Weise zur Sprache - in allem Schrecken, in aller Wahrhaftigkeit, die die Hoffnung, den Humor und die Feinfühligkeit in einem doch sehr angefochtenen Leben stärker als den Sog der seelisch tödlichen Verwundungen werden lassen.

Gudrun Seidenauer