september-oktober 1998

Peter Truschner

Kühne Räume und laue Träume

Der Schauspiel - Sommer der Salzburger Festspiele 1998

Ob die Festspiele zum »Hochkultur - Supermarkt verkommen«. Ob Gerard Mortier über das Jahr 2001 hinaus bleibt. Ob Ivan Nagel den Stuhl des Schauspielchefs nach nur einem Jahr aus »gesundheitlichen Gründen« oder aus Ekel vor den »Salzburger Entscheidungsstrukturen« räumte. All diesen Fragen und der Langeweile, die ihnen innewohnt, soll hier nicht näher nachgegangen werden. Umso mehr den Aufführungen, sowie den Absichtserklärungen, die ihnen vorausgingen. »(Es) wird das weiteste Terrain an Spielweise und Weltsicht abgesteckt«, behauptete etwa Ivan Nagel. Und: »Unsere Lesungen und Aufführungen lassen sich nicht einfach zur sommerlichen Entspannung zwischen Don Giovanni und Don Carlos einschieben«. In diesen Aussagen liegt der Kern für das Problem, das die Festspiele heuer zum Teil mit Fachpresse und Publikum hatten, verborgen: Gerade die Ambitioniertheit des Programms und die große Geste der Ankündigungen läßt nicht wenige Produktionen als enttäuschend erscheinen.

»Ob ich nun einen Stuhl, eine Geste oder ein Licht entwerfe, im Idealfall kann es unabhängig existieren,(...) es hat sein eigenes Leben«, meint Robert Wilson. Schade nur, daß dieser Idealfall in seinem Theater so gut wie nie vorkommt. Seine Produktionen sind längst mit dem zerstörerischen Schleier der Vorhersehbarkeit verhangen. Dem blauen Schatten, den seine ästhetischen Konzeptionen ihnen aufnötigen. Ob in »Alice«, »Time Rocker« oder der Salzburger Inszenierung von Büchners »Dantons Tod’: Wilsons Theater ist masturbatorisch, da es nur der Ästhetik des Selbstbezugs huldigt. Es lernt nur von sich selbst und ist in diesem Sinn ein Kaleidoskop unermüdlicher Selbstabsplitterung. Bis es schließlich zu einer »Ikone des Prominententheaters« (Danton-Darsteller Martin Wuttke) verkommt.

Robert Lepage hingegen masturbiert nicht - er verströmt seinen Samen in »Geometry of Miracles« über ganze Teile der Geschichte des 20. Jahrhunderts und seines »Materialismus’, »Spiritualismus’, »Utopismus’, Idealismus’, Kommunismus’, Egoismus’« (Süddeutsche Zeitung). Ausgehend von den Grenzgängen zwischen Geometrie und Ekstase, hofft Lepage mit Hilfe seiner virtuosen Szenenübergänge, die Überfülle des Materials zu bändigen. Und scheitert. Scheitert auch an dem zirkushaften Staunen, das einzelne Menschen-Bilder zu erzeugen wissen, und der Beliebigkeit, die sie in Bezug auf ihre eigene Geschichte im Zusammenhang aufweisen. Und dem Gefühl der Konstruiertheit der Geschichte, das sich aufgrund dessen immer wieder einstellt. Immerhin bot »Geometry of Miracles’ den Unterhaltungswert einer gelungenen Broadway - Revue.

»Einschieben« konnte man sich die Shakespeare - Bearbeitung »Troilus und Cressida« - aber eher in den Arsch. Regisseur Stefan Bachmann soll seiner Truppe die Fußball-WM als Anschauungsunterricht für die Männlichkeitsrituale in »Troilus und Cressida« empfohlen haben. Ich frage mich nur, wie sie so exzessive Kenntnis über die Duschraum- und Klosettatmosphäre in Frankreich erlangen konnten. Ansonsten ist das Stück vom Kriegs- und Liebesalltag der Trojaner und Griechen relativ lieblos, ohne erkennbare Ambition und ohne viel Unterhaltungswert als grelle Trash - Revue hinuntergekippt wie eine Dose Bier. Im Grunde also: Scheiße.

Dagegen Jossi Wielers und Anna Viebrocks Umsetzung einer Schrift, die Elfriede Jelinek an den Ausgangspunkt der wohl geglücktesten, sicher jedoch beglückendsten Festspielaufführung 1998 stellte: »er nicht als er«, Jelineks Hommage an Robert Walser, Martin Heidegger und sich selbst. Die Freiheit und Gebundenheit der Schauspieler, die wie von unsichtbaren Augen gelenkt scheinen und doch auf eine rettende, quälende Weise in sich selbst ruhen. Vielleicht die stimmigste Konfrontation einer Jelinek-Schrift mit den Möglichkeiten des Theaters überhaupt. Gerade die collagehafte Form, die Verstrickung ihrer Gedanken in das Werk eines anderen, ermöglichte es ihr, sich selbst mehr Spielraum zu lassen als sonst, und Töne anklingen zu lassen, die im Hervorstechenden oftmals untergehen: Flüstern, Zartheit, leise Ironie und Selbstqual.

Das Resultat von Hal Hartleys Bemühungen in SOON, den Mechanismen des Fanatismus und der Sektenbildung, der Selbstaufgabe, Selbsterhöhung und Abschottung von der Welt auf die Spur zu kommen, stellt sich zwiespältig dar. Der Schlüssel liegt in der Anlage der Dramaturgie: Um Mechanismen menschlicher Meinungsbildung auf die Spur zu kommen, muß ich ein »vorher« und ein »nachher« eines Entwicklungsprozesses bestimmen, um die daraus resultierenden Konsequenzen im Handeln kenntlich machen zu können. Hartley beraubt sich jedoch bewußt dieser Möglichkeiten, indem er die Akteure als Teil des Diskurses, dessen Verkörperung sie inzwischen geworden sind, agieren läßt, und nicht als Individuen innerhalb einer Gemeinschaft. Sie sind Wort bzw. Prophezeiung, Auslegung, Häresie geworden. Um das ganze Stück zu tragen, reicht das nicht aus: es verfällt in den stimmenbezogenen Dämmer eines Hörspiels. Die Körper der Akteure wirken auf der Bühne gerade in ihrem bloßen Funktionieren seltsam desorientiert: es scheint, als wüßten sie nicht, welchen Grad der Selbstbehauptung sie welchem Grad der Selbstauflösung gegenüberstellen sollen.

Das »musical play« SOON war Hartleys Theaterdebut. Das Element »musical« konnte man dabei getrost vergessen. Die Experimente, die musikalisch in Bezug auf das vorgegebene Thema möglich gewesen wären, wurden nicht einmal angedeutet. Ansonsten muß man der Inszenierung einen Gestaltungswillen und eine Unerschütterlichkeit bescheinigen, die sich auch von einem möglichen Irrtum nicht abschrecken läßt. Eine Eigenschaft, die vor allem den Aufführungen des diesjährigen Musiktheaters - mit Ausnahme der Marthaler - Inszenierung von Janaceks »Katja Kabanova« - völlig abging. Die absolute Bedeutungslosigkeit - von Zadeks »Mahagonny« bis Wernickes »Don Carlo« - der meisten Inszenierungen wird - ein Trost - wohl nicht mehr zu überbieten sein.