herbst 2004

Wiglaf Droste

Existenzialismus heute

Der Spätsommer ist die Zeit des Dorffestes – mal richtet die Freiwillige Feuerwehr das aus, mal ein Sportverein, und immer ist es die identische Tristesse aus Bratwurst, schlechter Musik und Getränken, die erst zu sich genommen und später von sich gebrochen werden müssen. Da ich vom Dorf komme, vom Kaff, kenne ich das gut: Männer, die breite Spuren Saures hinter sich her ziehen beim nächtlichen Verlassen des Festplatzes. Je nach Mode waren die Spuren von Persico, Apfelkorn oder anderen Vergiftungsgaranten zu bestaunen. Schön ist das nicht, wird aber für eine amtliche dörfliche Sozialisation als unverzichtbar erachtet, und später, bei der jährlichen Wiederholung, gilt es dann als Tradition, die man ja pflegen soll.

Um schön in Schwung und Stimmung zu kommen, ist Musik vonnöten – bevorzugt die von früher, als man jung war, da kann man dann sentimental werden. Auf dem Dorf altert man schnell, die Ehe rumpelt vor sich hin, das Idyll existiert nur in den Augen der Fremden – für die Einheimischen ist das Leben eine Mischung aus Ereignislosigkeit, Geldknappheit, Konvention und Langeweile.

Matt schleppt sich alles zum Dorffest, die Kinder immerhin finden es wirklich aufregend – so lange, bis der für die Musikbeschallung zuständige Mann die Walzerstunde für die Älteren einläutet. Später, im Dunkeln, spielt er dann die Hits von damals. In der ehemaligen Bundesrepublik sind das vor allem englische und deutsche Schreckensschlager, im deutschen Osten ist es das gehobene deutschsprachige Unterhaltungslied aus DDR-Zeiten. Das macht die Sache aber nicht besser.

Das Lied, das auf einem mecklenburgischen Dorffest Furore macht, heißt „Jugendliebe“, gesungen wird es von Ute Freudenberg und der Gruppe Elefant, was in der DDR, wie ich erfahre, zu Ute Elefant zusammengezogen wurde. Ich weiß nicht, wie es ist, wenn man mit diesem Lied aufwuchs – ich weiß nur, wie es sich anfühlt, wenn man dieses Lied im Alter von 43 Jahren zum ersten Mal hört. „Er traf sie wieder, / viele Jahre sind seit damals schon verga-ha-hangen / Sieht in ihre Augen, / und er denkt zurück: Wie hat es angefa-ha-hangen?“, singt Ute Elefant.

Die Augen der erloschenen Paare werden noch einmal feucht, der musikalkoholische Knopfdruck hat funktioniert, manche Hand findet einen Weg in eine andere, um eine stämmige Schulter oder auf einen massigen Hintern. Das Lied schaukelt sich hoch zum Refrain: „Jugendliebe bringt / den Tag, wo man beginnt, / alles um sich her ganz anders anzusehn, / Ha-Ha, Lachen treibt die Zeit, / die unvergessen bleibt, / denn sie ist traumhaft schö-hö-hö-hön.“

Es ist billig, das Grauen mit Distanz und Ironie wahrzunehmen. Man muss es ungefiltert durchstehen. Sich in eine gehübschte Vorstellung vom Leben verknallen kann jeder, das ist Hüchel.

Das Land und seine Bevölkerung vor Augen und Ute Elefant in den Ohren haben, das ist Existenzialismus heute, das ist der Mythos von Sisyphos, das ist Camus und der Mensch in der Revolte.

Nicht ausweichen, die volle Dosis Elend nehmen, die ganze Portion, bis zur Neige, und dann sagen:

Ja, ich will – das ist Leben.