august-september 2004

Doc Holliday

Schweinchen, Schnuller und Schüsse in den Hintern

Einige Anmerkungen zum französischen Nationalspiel Boule

Gemach, gestrenge Sittenwächter! Was im Titel nach einer mittelgroßen Sauerei klingt, beschreibt doch nur im Boule gebräuchliche, aus dem Französischen entlehnte Fachausdrücke (die später noch erläutert werden).

Da wird ob Globalisierung und omnipräsenter Medien die ganze Welt immer mehr zu einem einzigen Dorf, von einem Boule-Fieber, gar dem Ausbruch einer Epidemie (wie der Evening Standard schon vor Jahren für Großbritannien konstatierte) merkt man in der Mozartstadt dennoch reichlich wenig. Jedenfalls besitzen die hiesigen Kugelfreaks (noch) keine Lobby. Dabei fordert dieses alt überlieferte Spiel viele Fertigkeiten und kann von Jedermann ohne großen finanziellen Aufwand betrieben werden.

Klassifikation

Dialog mit x-beliebigem Mitmenschen: „Was machst du heute?“ Antwort: „Ich spiele Boule!“ Nachfrage: „Was, Pool?“ Antwort: „Na, hab ich denn Dreck am Queue? Oder nur eine schlechte Aussprache – also dieses vermaledeite Französisch!“ (Jetzt schnell die rettende Idee) „Das ist so was Ähnliches wie Boccia!“ Vorwurfsvolle Replik: „Aha, warum sagst du das nicht gleich!“ Da in unseren Breiten irrige Vorstellungen herrschen, was denn dieses Boule überhaupt ist, hier einige notwendige Erläuterungen. Boule wie Boccia gehören zur Gattung der „Kugel- und Kegelspiele“ (Reclams Sportführer), zu denen auch noch – welche Überraschung – unser Kegeln, das amerikanische Bowling (für weitere Auskünfte dazu schaue man sich den großartigen Film „The Big Lebowski“ der Coen-Brüder an!) sowie Billard in seinen verschiedenen Formen (da sind wir beim Pool) gehört. „Boule“ ist eigentlich eine sehr unscharfe, weil Sammelbezeichnung für leicht unterschiedliche Spielarten, die eines gemeinsam haben: Man benötigt zur Ausführung Kugeln, Arme, um die Kugeln zur Ortsveränderung zu zwingen, sowie ein Ziel (gemeinhin eine kleinere Kugel). Vom Boule existieren in Frankreich unzählige regionale Varianten: La Boule en Bois, La Boule de Fort, La Boule des Berges, Boule Lyonnaise, Jeu Provencal. Aus letzterem wundersamerweise aus der Provence stammenden Spiel ging das nicht nur in Frankreich populäre Petanque hervor. Wer außerhalb Frankreichs heute von Boule spricht, meint eigentlich Petanque. Was diese diversen Formen unterscheidet, betrifft die Beschaffenheit der Kugeln, die Zählweise, das Spiel mit und ohne Anlauf sowie die Form der Spielfläche und des Untergrundes. Im Nahverhältnis zu Boule stehen auch alle im Winter betriebenen Zielspiele (Eisstockschießen, Curling, Bosseln ...).

Geschichte

Wie nicht anders zu erwarten, kannten bereits die alten Griechen der Antike Kugelspiele. In der „Ilias“ beschreibt Homer einen Wettkampf, bei dem Krieger versuchten, Eisenblöcke möglichst weit zu werfen. Diese doch eher zu den Kraftsportarten gehörende Disziplin wurde von berühmten Ärzten der damaligen Zeit (etwa Hippokrates) wärmstens empfohlen. Überlebt hat die ebenso archaische wie rustikale Form im Baumstammweitwurf der schottischen Highlandgames. Die Römer machten dann aus dem Kugelstoßen für Herkulesse ein Geschicklichkeitsspiel, das Zielgenauigkeit voraussetzte.

Auch in Großbritannien gibt es heute noch ein Boule-verwandtes Spiel. „Bowls“ betreibt man mit Holzkugeln, in die ein Metallgewicht eingelassen wird. Dieser Kniff ermöglicht es, dem Wurfgerät wundersame Drehungen zu geben – eine Tatsache, die übrigens schon William Shakespeare beschrieben hatte. Eine Anekdote zum „Bowls“ illustriert ganz treffend die Ruhe und Gelassenheit, die Kugelschmeißer generell auszeichnet: Ein bekannter Freund des „Bowls“ war der englische Pirat und Seeheld Sir Francis Drake. Im Jahr 1588 gab er sich zusammen mit seinen Offizieren an den Steilküsten seiner Heimat einem Match hin. Da eilte ein aufgeregter Bote zur Spielgesellschaft, der die Kunde vom bevorstehenden Angriff der gefürchteten spanischen Armada überbrachte. Das konnte Drake aber nicht aus seinem Rhythmus bringen, denn er sagte den Mitspielern: „Wir haben noch genug Zeit, das Spiel zu beenden; danach schlagen wir die spanische Armada.“ Damit lag der britische Seeräuberhäuptling bekanntlich nicht ganz daneben.

Boule ist nicht gleich Boccia!

(Werfer bleib bei deinen Kugeln)

Womit wir bei der italienischen Variante des Kugelwerfens angelangt wären. Die heißt Boccia und ist die in unseren Breiten bekannteste und beliebteste Form. Das mag einerseits mit dem ersten westdeutschen Nachkriegskanzler und Bocciafreund Konrad Adenauer zusammenhängen, andererseits mit den Urlaubsgewohnheiten der Mitteleuropäer seit den 50er Jahren. Der lemminghafte Zwang, aus (vorgeblichen?) Erholungszwecken den Stiefel im Süden heimzusuchen, bescherte uns Nachgeborenen nicht nur Pizza, Pasta, Tiramisu und herrenmenschelnde Überlegenheitsgefühle, sondern auch ein zumindest rudimentäres Wissen von Boccia. Das wird zwar auch freistilmäßig an Adriastränden praktiziert, in seiner Wettkampfform aber nur auf speziell präparierten Bahnen, die meist überdacht sind. Die Spielfläche muss 28 Meter lang, viereinhalb Meter breit, hart, sauber und plan sein und aus mehreren Schichten Schlacke, Kesselasche, Rotkies sowie fest gewalztem Steinmehl bestehen. Die verschiedenfärbigen Kugeln sind aus Holz, die Zielkugel heißt „lecco“ – was nichts mit pikanter Gemüsesoße zu tun hat, aber „Leckerbissen“ oder „Köder“ bedeutet. Boccia betreiben derzeit etwa 30 Nationen als Wettkampfdisziplin. Die erfolgreichsten Länder sind wenig überraschend Italien und die Schweiz. Boccia hat sich auch als „Behindertensport“ und Teil der Paralympics durchgesetzt – wobei Österreich zu den führenden Nationen gehört.

„Werfen oder rollen?“

(aus: „Asterix – Tour de France“, S. 32)

Bei den Bouleformen und Boccia ist natürlich rein theoretisch beides möglich (und das sogar in einem Wurf). Aber bei den Italienern wird mehr gerollt – zu irgendetwas muss der ebene Untergrund ja nütze sein – , bei den Galliern doch eher geworfen. Das belegt auch die oben zitierte Asterix-Geschichte. Ursächlich hängt das mit dem beim Petanque meist üblichen unebenen Geläuf zusammen. Wer da ans Rollen denkt, spielt wahrscheinlich auch Russisches Roulette mit sechs Patronen in ebenso vielen Kammern. Das dann dafür nur einmal. Was aber bei weitem keine Glaubensfrage darstellt, ist die zentrale Bedeutung des Boule respektive Petanque in der französischen Gesellschaft. Bei dieser Tätigkeit darf der Gallier nicht gestört werden (auch hiervon zeugt der Asterix-Band). Sie gehört nicht nur für die temperamentvollen Südfranzosen genauso zum Savoir-vivre wie der Hang zum Schlemmen.

Anzüglichkeiten,

merde & werfen wie

Gott in Frankreich

Boule, das ist so französisch wie das Knabbern am Froschschenkel, wie Perlwein, Camembert, Baguette, Bistro, Bordeaux-Roter, Nouvelle Vague, Maispapier-Tschick oder Pastis (wo die verschiedenen Disziplinen Pernod, Ricard und Absinth heißen). Letztere sind zwar anerkannte Zielwässer, doch verhelfen sie nicht automatisch Jedermann zu besseren Würfen.

Petanque ist so simpel wie abwechslungsreich. Zweckdienlich für das Spiel ist es, die Metallkugeln (Durchmesser zwischen 70,5 und 80 Millimeter, Gewicht mindestens 620, höchstens 800 Gramm) möglichst nah an die kleine bunte Zielkugel zu befördern. Alle menschlichen Betätigungen benötigen eine spezielle Fachsprache: Die Zielkugel wird meist „bouchon“ genannt (was so viel bedeutet wie „Schweinchen“). Das Werfen oder Rollen der Kugel erfolgt aus einem Wurfkreis heraus (den der Freistil-Bouletteur einfach vom letzten Standort des Schweinchens aus mit dem Fuß markiert), in stehender oder kauernder Position und nennt sich „pointer“ (auf Deutsch: legen, punktieren). Um die gegnerischen Kugeln zu entfernen, braucht es das „tirer“, also Schießen. Die Kugel fliegt flach oder beschreibt (mit oder ohne) Effet unterschiedlich steile Kurven. Einen „Schnuller“ (biberon) nennt man einen gelungenen Wurf, bei dem die Kugel das Schweinchen berührt. Wer „in den Hintern (cul) schießt“ gibt sich keiner sexuellen Neigung hin, sondern trifft mit der eigenen eine gegnerische Kugel voll auf der unteren Hälfte. Was keinesfalls bedeutet, dass im Boule nicht auch anzügliche Anspielungen zu finden wären. In Frankreich (immerhin das Land von Serge Gainsbourg, Jane Birkin und anderer erotischer Eindeutigkeiten) gilt heute noch der Brauch, dass derjenige, der mit null Punkten verliert, seinem Gegner den Allerwertesten küssen muss. Oh, là, là!

Gespielt wird im Übrigen eins gegen eins (pro Spieler drei Kugeln), in Zweier- oder Dreierteams. Jede eigene Kugel, die näher beim Schweinchen liegt als eine gegnerische bringt einen Punkt. Die Glückszahl beim Boule ist die Dreizehn: wer als Erster so viele Punkte verbuchen kann, steht als Sieger auf dem holprigen Geläuf. Fehlendes Augenmaß oder taktische Überlegungen (um den Gegner schlicht zu verunsichern) führen zu den unweigerlichen Disputen über die Nähe oder größere Entfernung der einzelnen Kugeln zum Ziel. Sicherheit schafft nur ein Maßband. Dieses trägt dann ebensoviel zur Geselligkeit bei wie der Konsum diverser Zielwässer.

Freistil und desaströse Bedingungen in Österreich

Boulisten in unseren Breiten möchten sicher auch etwas von der südländischen Atmosphäre importieren. Dazu braucht es bei allen verbalen Mätzchen doch eine gehörige Portion Ruhe, Kontemplation, Konzentration und Gelassenheit. Das entsprechende, noch nicht geschriebene Buch müsste „Zen oder die Kunst, eine Kugel zu werfen“ heißen – in Anlehnung an den Bestseller der 60er Jahre, in dem die japanische Meditationsform mit der Kunst des Motorradwartens in Beziehung gebracht wurde. Das hat auch nichts mit Esoterik zu tun, sondern ist bodenständige Notwendigkeit (wie der stärkende Schluck aus der Pulle)!

In Berlin gibt es etwa 1000 Boulisten. Spielplätze in der freien Natur wie am Landwehrkanal oder auf Promenaden erfreuen sich steigender Beliebtheit. Für die Wintertage (heuer also das ganze Jahr) kann man sogar in einer Halle auf Kiesbahnen („Boulodrome“) den Kugeln Drall mitgeben.

Und in Österreich? Boule mag sich steigender Beliebtheit erfreuen, allein die Möglichkeiten, es auszuüben, sind eher begrenzt. An den Wiener Vereinsmeisterschaften beteiligen sich acht Mannschaften. Der 1995 gegründete Österreichische Petanque-Verband verzeichnet Mitglieder und Plätze in Wien, Niederösterreich, Burgenland, Tirol und Kärnten. In unserer schönen Festspielstadt mag man nicht alle Spiele: Boule wie Boccia können nicht wettkampfmäßig betrieben werden. Auch wer die Vereinsmeierei sowieso nicht ausstehen kann, muss schauen, wo er mit seinen Kugeln bleibt. Für Freistil-Boulisten taugliche Plätze sind rar: der Hellbrunner Schlosspark, einige von Beachvolleyballern wenig genützte Sandflächen mit angrenzenden Wiesen oder in vergangenen Jahren mitunter das Dach des Rockhouse. In Wien wurden die Zeichen der Zeit schon vor Jahren erkannt. So besteht die Möglichkeit im Museumsquartier eine ruhige Kugel zu schieben – und das wegen Flutlichtvergünstigung bis in die Nacht hinein. Eine vife Idee, die letztlich auch durch die andauernde Beliebtheit des Boulespiels bei Künstlern mehr als gerechtfertigt erscheint. Die ruhige Kugel schieben in Salzburg selten Boulisten, vielmehr scheint dies ein Spielchen der verantwortlichen Politiker zu sein.