Europa, was jetzt?
Nach der EU-Erweiterung: Über das Verhältnis von Mehrwert und Nächstenliebe sowie die Konjunktur für nationalistische Hetzpropaganda.
Neue Zeiten bringen neue Berufe hervor. Manche, die am Alten hängen, kommen da nicht mehr mit. Ich zum Beispiel habe lange gegrübelt und kann mir noch immer nicht vorstellen, womit man als Career-Designer sein Geld verdient. Oder als E-Commerce-Consultant, um vom Info-Broker, Content-Manager oder Tele-Tutor erst gar nicht zu sprechen! Neue Zeiten bringen aber auch alte Berufe wieder hervor. Und auch da kommen manche nicht mehr mit. Der stellvertretende Bürgermeister von Salzburg zum Beispiel hat die Polizei aufgefordert, die Bettler, die neuerdings in sichtlich größerer Zahl auf Brücken knien, vor Kirchen kauern, auf den Straßen stehen und dabei gar keinen schönen, die gute Laune des Shopping fördernden Eindruck machen, mit der „ganzen Härte des Gesetzes“ zu verfolgen. Er hält, was sie treiben, für ein Unwesen, nicht für ein Gewerbe. Da irrt er sich.Der stellvertretende Bürgermeister ist, wie es sich gehört, zweifellos ein überzeugter Europäer. Und hat den 1. Mai, als zehn neue Länder der Union beitraten, sicher als europäischen Feiertag begangen. Hätte er aus diesem Anlass eine Rede halten müssen, würde er vermutlich von den europäischen Werten gesprochen haben, von der Einheit des Kontinents, die der Vollendung ein großes Stück näher gekommen ist. Ich war in den letzten Monaten in fast allen dieser zehn Länder unterwegs und kann ihm versichern, das Betteln ist dort wieder zu einem Beruf geworden, mit dem wesentlich mehr Menschen ihre Existenz bestreiten als mit Career-Design oder Content-Management.
Europäische Werte hin oder her, dass die nationalen Grenzen für Waren wie für Arbeitskräfte fallen, war der wichtigste Grund, dass sich die Union überhaupt gebildet hat. Und jetzt haben wir die Bescherung! Da erlauben wir es den Slowaken, Polen und Letten, uns ihre Grenzen zu öffnen, und dann wollen sie nicht nur die Güter kaufen, an denen wir, sondern zugleich jene Hungerleider anbringen, an denen sie einen Überschuss haben. Damit man mich nicht missverstehe: Ich fände es auch besser, die Roma der Ostslowakei würden ihr Auslangen in der Heimat als Berater für Investementfonds finden, anstatt uns mit demütigen Gebärden vor unseren Sparkassen zu behelligen. Das Dumme ist nur, diese Berater haben wir schon längst in alle neuen EU-Staaten geschickt, deren Banken- und Versicherungswesen in den letzten Jahren, als die dortige Wirtschaft auf den Beitritt zugeformt wurde, in deutsche, französische, holländische und, ja, auch in österreichische Hände übergegangen ist. Irgendetwas muss von dort, wohin so viel exportiert wird, aber auch zurückkommen! Und was da kommt, etwa an organisierten Gruppen von Bettlern, denen abends womöglich noch von ihren eigenen Zinsherren der Bettel abkassiert wird, das gefällt uns mitunter so wenig, wie es den polnischen Bauern gefallen mag, dass ihr Stand eben dabei ist, ausgelöscht zu werden, weil der heimische Markt mit den hoch subventionierten Milch- und Fleischprodukten westlicher Konzerne überschwemmt wird, deren Preise unter den Gestehungskosten polnischer Bauern liegen. Das mag nun ein jeder nehmen, wie es zu ihm passt, und für sozial empörend, kulturell belangslos, existentiell tragisch oder ökonomisch unausweichlich halten. Jedenfalls ist es so, und deswegen hat es Folgen auch für uns. Wer nämlich geglaubt hat, die fälschlich so genannte Osterweiterung würde reibungslos und konfliktfrei als Westerweiterung durchgezogen werden können, hat sich getäuscht.
Angestrebt war doch, dass sich der Westen gegen Osten hin erweitere: wirtschaftlich, politisch, militärisch und, meinetwegen, auch mit seinen vielbeschworenen „europäischen Werten“, von denen es einige gibt, die über den Mehrwert hinausgehen und die mir durchaus etwas wert sind; darunter namentlich jene, die ich – wie die Freiheit von Zensur, die religiöse Toleranz, den Rechtsstaat, die soziale Solidarität – nicht als exklusiv europäische Werte, sondern lieber als universelle Menschenrechte bezeichnen würde. Zur Ostererweiterung, die korrekt Westerweiterung genannt werden sollte, ist es gekommen, weil der Westen, der mit seiner innovativen, hoch rationell arbeitenden Maschinerie wesentlich mehr herstellt, als seine pflichteifrigen Konsumenten selber verzehren oder gar verdauen können, den Osten als riesigen Absatzmarkt entdeckt hat; als Absatzmarkt, auf dem es nach dem Desaster der kommunistischen Kommandowirtschaft noch auf Jahrzehnte hinaus einen immensen Bedarf an Gütern und Waren aller Art geben wird.
Es ist angebracht, dies ohne moralisierenden Unterton zu sagen, aber gesagt muss es doch werden, weil uns die Erweiterung des Westens nicht nur fälschlich als Ost-Erweiterung, sondern zudem als karitatives Projekt verkauft worden ist. Ein österreichischer Großindustrieller, dessen Konzern in acht osteuropäischen Ländern Produktionsstätten und Filialen errichtet hat, erklärte die Expansion seines Unternehmens kürzlich damit, dass wir Österreicher, 1945 nur durch eine glückliche Fügung der westlichen Einflusssphäre zugefallen, eben die „Verpflichtung haben, denen, die nicht so glücklich waren, zu helfen“. Der da im Osten aus Mildtätigkeit Milliarden scheffelt, heißt Thomas Prinzhorn, hat sich sicher das Lachen kaum verbeißen können, als er sein geschäftliches Bekenntnis zur Nächstenliebe ablegte und ist bisher, was die nicht so glücklichen Menschen des Ostens betrifft, eher mit Jägerlatein wie diesem hervorgetreten: „Wenn man an die March schaut, was da alles über die Grenzen herüberkommt, da kommen auf drei Hirschen fünfzig Tschetschenen und auf zwei Wildschweine noch einmal hundert Kasachen.“ Ehe es dem Jäger im Finger zuckt, sei darum in Erinnerung gerufen: Die schnelle Erweiterung, gerade jetzt und fast um jeden Preis, war eine schlichte Notwendigkeit – für den Westen. Darum hat er es in den hektischen Verhandlungen zuletzt auch hingenommen, dass sich die Osteuropäer, noch ehe sie formell überhaupt in die Union aufgenommen waren, einige unerwartete Äußerungen von Unbotmäßigkeit erlaubten.
Nun freilich, kaum ist die Erweiterung vollzogen, schon macht sich, da wie dort, eine gereizte Enttäuschung breit, mit der wir uns, trotz allem Vorbehalt dagegen, dass die Union ein vorwiegend ökonomisch konzipiertes Projekt geblieben ist, nicht abfinden sollten. Auch wenn wir andere Lebensziele haben als die Konzernherrn, andere Pläne als die Geostrategen der Erweiterung, ist die Union doch künftig der Rahmen, in dem sich unsere Geschichte verwirklichen wird. Und dieser Rahmen bietet großartige Chancen, die frühere Generationen nicht hatten. Darum kann es uns nicht gleichgültig sein, wenn sich das vereinte Europa als erstes im Ressentiment zu vereinen scheint: im Ressentiment des einen Nationalstaats gegen den anderen, der neuen gegen die alten Mitglieder – und im gemeinsamen Ressentiment aller Unionseuropäer gegen jene, die den privilegierten Status von Europäern erster Güte noch nicht erreicht haben.
Wie die Ressentiments bei uns aussehen können, hat uns auch der stellvertretende Bürgermeister gelehrt. Die Roma der Slowakei, deren Anblick er uns ersparen möchte, haben sich unter anderem deswegen auf Bettelfahrt in den Westen begeben, weil die slowakische Regierung, von Brüssel auf rücksichtslose wirtschaftspolitische Vorgaben verpflichtet, die Sozialhilfe, von der die Roma fast vollzählig abhängig sind, auf die Hälfte gekürzt hat. Ihre Bettelfahrt hat uns also nicht nur zum Ziel, sondern – mittelbar – auch zu einem von mehreren Anlässen. Und ist ihre Verelendung auch nicht unsere Schuld, wird sie in einem vereinten Europa doch auch zu unserem Problem. Wer jedoch der eigenen Propaganda erlegen ist und meint, es hätte sich bei der Ost-Erweiterung um einen Gnadenakt des Westens gehalten, der wird das Problem nicht verstehen und, indem er es nicht versteht, uns selber ein neues bescheren, indem er ohnehin nicht eben aufgeklärte Menschen mit dumpfen Ressentiments bedient.
Dass Ressentiments kein Privileg der Westeuropäer sind, habe ich auf der erwähnten Frühjahrsreise durch die Erweiterungszone drastisch erfahren. Von Lettland bis Zypern gibt es in jedem Beitrittsland eine vereinsamte, von Verelendung bedrohte Masse, die von ihrer politischen Elite im Stich gelassen worden ist. Den neuen Eliten des Ostens kann es gar nicht neoliberal genug zugehen, und am liebsten würden sie auch gleich den Westen Europas um jene sozialen Errungenschaften erleichtern, die sie im eigenen Land als Hemmnis des Fortschritts erst gar nicht zuzulassen gedenken. Die im Stich gelassenen Massen aber sind überall zum Beutestück autoritärer Bewegungen geworden, die sich deren berechtigter Anliegen rabiat bemächtigen. Die Volkshelden dieser autoritären Bewegungen, gegen die sich selbst unsere Knittelfelder noch vergleichsweise zivilisiert ausnehmen, sind bei uns zumeist noch unbekannt. Sie tauchen in unseren Fernsehberichten nicht auf und stehen nicht bettelnd auf unseren Straßen herum; aber sie werden uns noch ganz andere Sorgen bereiten als diese Ärmsten der Armen, auf die unser Unmut abgelenkt werden soll.