mai 2004

gelesen

Bücher zum Thema

William Burroughs

Die elektronische Revolution/

Electronic Revolution

Expanded Media Edition 1982

Des lieben Onkel Bills berühmt-berüchtigtes Media-Guerilla-Handtaschen-Mao-Bibel-Äquivalent, das auch Gilles Deleuze (er „lieh” sich ja von Burroughs den Begriff „Kontrollgesellschaften“) als Nachtkastl-Lektüre schätzte. Bei Sätzen wie „Ein Virus ist eine mikroskopisch kleine Einheit von Wort und Bild“, auch ganz logisch. Komplett mit Sprachverschwörungstheorien („Language is a virus from outer space”), Anweisungen zur Zerstörung des „Identisch-Sein” und den bahnbrechenden Tipps zum subversiven Gebrauch von drei Tonbandgeräten. Das geht zwar heute alles mit einem Computer, wird aber seit den Tagen von Industrial über Plunderphonics bis hin zum aktuellen Bastard-Pop immer noch nach Burroughs (und Byron Gysins) Cut-Up-Theorie abgewickelt. DN

Georg Seeßlen

Die Matrix entschlüsselt

Bertz Verlag 2003, 350 S.

„Nachhaltig auf dem Markt wirken nur Filme, die eine gewisse lebendige Intelligenz in Gang setzen.“

Gewohnt spitzfindig und hirnschmalzbewegend analysiert Seeßlen „die schnellste Verbindung zwischen Philosophie-Seminaren und Multiplex-Foyers“ als rhizomatischen „Jugendzimmer“/„Studentenbuden“-Mega-Mix u. a. aus Fernost-Importen (Animes/Mangas) und deren West-Transformationen durch „Matrix“.

Wird der Blick jedoch genauer, findet selbst Georg Seeßlen „nichts wirklich Widerspenstiges“. Gerade deshalb Pflichtlektüre, auch weil es – wie immer bei Seeßlen – auch ganz grundsätzlich um die Liebe zum Kino und zu Filmen wie „Matrix“ (zumindest den ersten Teil) geht.

DN

Charlie Gere

Digital Culture

London 2003, Reaktion Books

Der britische Kunsthistoriker Gere liefert einen guten und leicht lesbaren Überblick über historische Wurzeln der digitalen Medien (vom späten 18. Jahrhundert an), ihre künstlerische und politische Verwendung sowie den Zusammenhang zwischen Kybernetik und Strukturalismus, Dekonstruktivismus oder Feminismus. Analysiert werden auch Ridley Scotts „Blade Runner“, John Cage und das Punk-Fanzine „Sniffin’ Glue“.

Doc Holliday

Chris Cutler

File Under Popular. Texte zur populären Musik

Neustadt 1995,

Buchverlag Michael Schwinn

Auf den ersten Blick mag man einwenden, dass dieser Sammelband nicht gerade brandaktuell ist. In Wahrheit erschien eine erste englische Fassung des Buchs bereits 1985. 1991 kam dann eine wesentlich erweiterte Ausgabe heraus, auf die sich diese noch immer im Buchhandel erhältliche deutsche Übersetzung stützt. Der Autor ist ein sehr umtriebiger Mensch, der als Musiker, Theoretiker, Journalist und Plattenfirmenchef schon seit gut 30 Jahren in der Londoner Szene werkt. Er gehörte als Schlagzeuger den britischen Avantgarde-Rockgruppen Henry Cow und Art Bears an, war Mitbegründer der europäischen Musikervereinigung Rock In Opposition, und er leitet bis heute das Plattenlabel ReR (Recommended Records). In den sieben Texten dieses Buches behandelt Cutler etwa die Frage „Was ist populäre Musik?“, außerdem portraitiert er seine „Helden“: Sun Ra, The Residents oder Phil Ochs und Elvis Presley. Ein Essay beschäftigt sich mit progressiver Musik in Großbritannien, ein weiterer – und damit qualifiziert er sich auch für unser „Gelesen zum Thema“ – widmet sich dem Phänomen „Plunderphonics“. Der Begriff stammt vom Künstler John Oswald und bedeutet „Klangplünderung“, also die (mehr oder minder subtile) Übernahme und Transformation fremden Materials. Obwohl die Entwicklungen der letzten zwölf Jahre hier nicht berücksichtigt werden, gilt Cutlers Analyse mitsamt dem historischen Abriss nach wie vor als ein grundlegender Text zum Thema. Das Problem mit dem Urheberrecht, die Ideologie des Originals, Plagiarismus in Kunst und Pop, so lauten die zentralen Punkte in Cutlers Essay. Seine noch immer aktuelle Schlussfolgerung lautet, dass ein Überdenken des Urheberrechts längst überfällig ist.

Doc Holliday

Gerhard Schulze

Die Beste aller Welten.

Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert?

Hanser 2003

Was bringt einen 50-jährigen Familienvater dazu, sich einen Sportwagen zu kaufen, der 250 Stundenkilometer schnell fährt? Warum werden Stereoanlagen gekauft, deren Spitzenwerte nur noch Messgeräte registrieren können, nicht aber das menschliche Ohr? Die individuellen Motive mögen unterschiedlich und eigenwillig sein, ihr sozialer Sinn folgt der Logik des „höher, schneller, weiter, lauter“. Was aber ist der Motor einer Gesellschaft, die sich beständig im diesem Laufrad bewegt? Wo lägen die Unterbrechungen, die Reflexionen, wo die Felder, die nicht den Regeln dieses Steigerungsspiels unterworfen ist? HF

Ulf Poschardt (Hg.)

Video – 25 Jahre Videoästhetik

Hatje Cantz 2003

„Videokunst ist der Kanal, mit dem die Bilderflut der Gegenwart reißend und gewalttätig die Zitadellen und Trutzburgen der alten Kulturproduktion flutet.“ Das Phänomen Video hat Legitimierungszwänge längst hinter sich, nun beginnt seine Historisierung: Wo aber eine Unterscheidung zwischen Kunst, Werbung und Pop nicht mehr möglich und auch nicht erwünscht ist, wird eine kritische Analyse erschwert, lassen sich Herkunft und Ziele der Produktionen nur mehr schwer ausmachen – an die Stelle der Strukturanalyse tritt die Phänomenologie. HF

Rudolf Frieling/Dieter Daniels (Hg.)

Medien Kunst Netz

Springer 2004

Einem Buch, das mit einer Gebrauchsanweisung beginnt, mag man skeptisch begegnen, dem hervorragenden Design (statt bunter Bilder findet man unzählige Icons, die auf die Website www.medienkunstnetz.de verweisen) zumindest erfreut.

Die Einschätzungen dieser Publikation könnten unterschiedlicher nicht sein und reichen von „das absolute Standardwerk zur zeitgenössischen Kunst Anfang des 21. Jahrhunderts“ (Sabine B. Vogel) bis zu „nutzlose Publikation“ (Armin Medosch). Ungeachtet dessen ist dieser Textreader ein notwendiger Grundlagenbeitrag, Medien- sowie Netzkunstprojekte aufzubereiten (sie zu historisieren und strukturieren) und weiter zu diskutieren. HF

Frank Hartmann

Medienphilosophie

Stuttgart 2000, UTB Verlag

Standardwerk des österreichischen Medientheoretikers.

Doc Holliday

Regis Debray

Einführung in die Mediologie

Bern 2003, Haupt Verlag

Was bedeutet der Begriff „Mediologie“? Sie fordert Repolitisierung und liefert die Basis für kritische Eingriffe. Wertfreiheit ist in Zeiten zynischer Mediendiskurse eine Illusion. Debray, der ehemalige Mitstreiter von Che Guevara, verzichtet noch immer nicht auf Gesellschaftskritik.

Doc Holliday

Geert Lovink

Dark Fiber

Cambridge 2003, MIT Press

Der niederländische Medientheoretiker Geert Lovink gilt als Internetaktivist der ersten Stunde und Szene-Star, der an vielen wichtigen Projekten mausführend beteiligt war. So an dem „Mediamatic“-Zine, am freien Amsterdamer Netzwerk „Digital City“ und an der Mailingliste „Nettime“ (www.nettime.org), wo er selbst permanent mit fundierten Beiträgen in laufende Diskussionen zu philosophischen, theoretischen oder politischen Problemen eingreift. In vorliegendem Buch – von dem übrigens eine deutsche Übersetzung schon längst angekündigt, aber noch nicht realisiert wurde – beschäftigt er sich mit ästhetischen und ethischen Fragen des Netzes. Gleichzeitig, und darin liegt ein großes Verdienst Lovinks, verliert er nie die ökonomischen und kulturellen Implikationen aus den Augen. Das unterscheidet ihn von vielen seiner KollegInnen. Die gute alte Machtfrage lautet: wem gehören Hard- und Software, wer bestimmt über Inhalt, Design und Verbreitung? Lovink beschreibt die gruppendynamischen Prozesse in Hackervereinen, Aufstieg und Fall der Dotcom-Unternehmergeneration, Strategien der Netzaktivisten, die Kultur der Mailinglisten und er betont die Notwendigkeit interkultureller Zusammenarbeit – die er mit Beispielen aus Albanien, Taiwan und Indien illustriert. Der Autor ist bei weitem kein Kulturpessimist oder Technoskeptiker, sondern ein Kritiker, der von den Netz-Apologeten bloß mehr politische und soziale Kompetenz sowie Weitsicht einfordert. Es geht schließlich um den ewigen Kampf zwischen Freiheit und Kontrolle. Jeder politisch bewusste Mensch sollte zudem die realen Verhältnisse im neoliberalen Kapitalismus nicht außer acht lassen: die zynische Ausbeutung der ArbeiterInnen in der Computerindustrie und in den Callcentern. Dazu äußert sich Lovink an anderer Stelle, nämlich einem Essay über „The State Of Networking“ (nachzulesen auf http://laudanum.net).

Doc Holliday

Geert Lovink

My First Recession. Critical Internet Culture In Transition

Rotterdam 2003, V2_Publishing

Eine kritische Analyse wissenschaftlicher und künstlerischer Netzdiskurse.

Doc Holliday

Geert Lovink

Uncanny Networks. Dialogues With The Virtual Intelligentsia

Cambridge 2003, MIT Press

E-Mail-Interviews mit Szenegrößen wie Kodwo Eshun, Mike Davis, Boris Groys oder dem unvermeidlichen Slavoj Zizek – und vielen anderen.

Doc Holliday