februar 2004

Doc Holliday

Das Andräviertel – Fine Arts, Little Italy und Big Money

Über die widersprüchliche Vielfältigkeit eines Salzburger Grätzels. Teil Eins: Der Flaneur, das Zentrum und die Spuren der Vergangenheit

Umherschweifende Einführung

Was in der Volksschule früher Heimatkunde hieß, darf der aufgeklärte Mensch heute ruhig unter Stadtsoziologie einordnen. Georg Simmel begründete diese Disziplin, Denker vom Kaliber eines Siegfried Kracauer (ganz nebenbei auch einer der wichtigsten Filmtheoretiker) und insbesondere Walter Benjamin entwickelten sie weiter. Letzterer führte die Figur des „Flaneurs“ für sein unvollendet gebliebenes Projekt über das Paris des 19. Jahrhunderts („Passagen-Werk“) ein. Das Verb „flanieren“ kommt ursprünglich aus dem Altisländischen: „flana“ bedeutet „ziellos umherlaufen“, das französische „flaner“ soviel wie „müßig umherschlendern“. Die im späten 18. Jahrhundert in Paris entstandene Flanerie ist eine Form der Großstadtwahrnehmung. Aus der Vielfalt des Alltäglichen soll sich der Flaneur ein Bild des urbanen Lebensraumes machen. Ein Spaziergänger, ausgestattet mit Zeit, Muße und einer genauen Beobachtungsgabe, der bisweilen auch mit Hilfe von Literatur oder Geschichtswissenschaft hinter die Fassaden blickt, um kleine Details, den historischen Wandel oder (un)soziale Zustände zu erkennen. Postmodernes Powerwalking oder atemloses Hetzen zum nächsten Geschäftstermin hat mit Flanieren nichts zu tun. Es gilt die alte Regel, „der Flaneur, der hat es nicht schwör“. Auf Schusters Rappen sieht man einfach mehr von einer Stadt.

Alles strebt zum Zentrum

Die genauen Grenzen des Andräviertels wollen wir hier nicht beckmesserisch bestimmen. Das (virtuelle) Zentrum bildet aber wohl die Kirche St. Andrä, die – ebenso wie der Dom auf der anderen Salzachseite – im 2. Weltkrieg von alliierten Bomben (größtenteils) zerstört wurde. Überhaupt waren die Kriegsschäden im Andräviertel ziemlich gravierend. Was auch daran liegt, dass sich in der Nazizeit hier viele militärisch genutzte Objekte befanden.

Der weltliche Mittelpunkt des Grätzels steht nur eine Straße vom Gotteshaus entfernt: das Café Wernbacher in der Franz-Josef-Straße. Ein Klassiker unter Salzburgs Lokalen, der mehr als einem Stammgast zum heimeligen Wohnzimmer geworden ist. Als Ende 2002 im Zuge eines Pächterwechsels die (Schnaps)Idee aufkam, das Kaffeehaus in eine American Bar umzuwandeln, löste dies bei den treuen Sesselpickern einen Sturm der Entrüstung aus. Im Klientel des Wernbacher spiegelt sich prototypisch die Vielfältigkeit des Viertels. Ein bunt gemischter Haufen von Theaterleuten, Künstlern, FilmemacherInnen, Werbemenschen, Architekten, Advokaten, ImmobilienhändlerInnen, StudentInnen, Geschäftsleuten und PensionistInnen, die im (inzwischen leicht modifizierten) 50er-Jahre-Ambiente die reichlich vorhandenen Zeitungen studieren sowie mittels feiner Speisen und Getränke die leidigen Hunger- und Durstzustände bekämpfen können. Der alte Wüstenfuchs nennt solche Orte gewöhnlich Oase, auch wenn sich der Kamelauftrieb in Grenzen hält.

Die Franz-Josef-Straße geht, das wissen nicht nur die Toihäusler, problemlos als Boulevard durch. Was soviel heißt wie Haupt- und Prachtstraße. Dem Namensgeber, unserem seligen Herrn Kaiser, schwebte in kakanischer Bescheidenheit nach dem Muster der Reichshauptstadt Wien auch für Salzburg eine Ringstraße vor. Es blieb bei der größenwahnsinnigen Idee und den üppigen Gründerzeitbauten aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts – soweit sie die explosiven Liebesgrüße aus Washington halbwegs unbeschadet überstanden haben. Der Boulevard sorgt noch für eine andere Freude: Sobald die gefühlte Außentemperatur knapp über dem Gefrierpunkt liegt, dient das breite Trottoir als geräumiger Schanigarten: Dort sitzt dann der eingeborene Andräviertler, beobachtet (auch wenn es sich nur um Carspotting handelt) und räsoniert über die degenerierte Welt. Immer in der unerschütterlichen Gewissheit, selber eine Ausnahme zu sein.

Schule(n) des Lebens

Soviel Auserwähltheit lässt einen beinahe nach dem Doktor rufen. Wie dem auch sei: Der Flaneur verlässt das Kaffeehaus physisch wie psychisch gestärkt (ach, diese befruchtenden Diskussionen) und sucht sogleich weitere Stätten der Bildung auf. Einmal um die Ecke spaziert und schon steht man vor der Volks- und Hauptschule in der Haydnstraße. Dort (und im Internat in der Schrannengasse 2) verbrachte Thomas Bernhard die Jahre von 1943 bis 1946. Im 1975 entstandenen Roman „Die Ursache“ – der eigentlich ein autobiografischer Rechenschaftsbericht ist – beschreibt der Autor diese Schulzeit. Dabei schenkt er allen ordentlich ein: den Lehrern, der Stadt, den Einwohnern. „Meine Heimatstadt ist in Wirklichkeit eine Todeskrankheit, in welche ihre Bewohner hineingeboren und hineingezogen werden, und gehen sie nicht in dem entscheidenden Zeitpunkt weg, machen sie direkt oder indirekt früher oder später unter allen diesen entsetzlichen Umständen entweder Selbstmord oder gehen direkt oder indirekt langsam und elendig auf diesem im Grunde durch und durch menschenfeindlichen architektonisch-erzbischöflich-stumpfsinnig-nationalsozialistisch-katholischen Todesboden zugrunde“. Mit diesem vernichtenden Verdikt empfiehlt sich der Autor freilich kaum für die Fremdenverkehrswerbung. Niedertracht, Züchtigungen, Feindseligkeit, Unterdrückung, Ausgeliefertsein – das ist der Stoff, aus dem dieser unerbittliche Salzburghass geformt wurde. Dass dahinter mehr als nur eine spinnerte und überempfindliche Weltsicht steckt, zeigt ein Zitat von Stefan Zweig, der bereits 1934 aus der Mozartstadt geflüchtet war: „Salzburg, die Stadt, die am stärksten nazistisch war, die mich gedemütigt hatte – und die Stadt, die gestern als erste unsere Bücher verbrannt hat“, schrieb der jüdische Schriftsteller 1938. Tatsächlich wurden die 239 Menschen jüdischen Glaubens (laut Volkszählung von 1934) in Salzburg gnadenlos diskriminiert, verfolgt, enteignet, vertrieben, in Lager und Gefängnisse gesperrt, ermordet.

Betroffen waren auch im Andräviertel (Franz-Josef-Straße, Rainerstraße, Linzer Gasse) ansässige Juden. Dagegen regte sich kaum Widerstand.

An der Fassade der Andräschule hängen seit einigen Jahren zwei Tafeln: Die eine erinnert an (den Juden) Albert Einstein, der im September 1909 hier vor der Gesellschaft deutscher Naturforscher und Ärzte erstmals seine Spezielle Relativitätstheorie einer Bauklötze staunenden Öffentlichkeit präsentiert hatte. Die zweite Gedenktafel erinnert an Josef Reischenböck. Der arbeitete als Lehrer an der Knabenhauptschule Haydnstraße, von 1935 bis zur Machtübernahme der braunen Horden bekleidete er gar das Amt des Direktors. Eigentlich ein Gesinnungsfreund der Christlichsozialen Partei und Mitglied der Vaterländischen Front, kam er in Kontakt mit Antifaschisten aus der Kommunistischen Partei, die damals dem Volksfrontgedanken anhing. Reischenböck trat der KPÖ bei, leistete finanzielle Unterstützung und verfasste Schriften gegen die Nazis. Der Widerstandskämpfer wurde wie so viele andere Aufrechte verhaftet und am 7. 5. 1943 in München-Stadelheim hingerichtet.

Demnächst: lecker essen, kräftig trinken, teuer wohnen

Literaturtipp:

Dokumentationsarchiv des österreichischen Widerstandes (Hrsg.):

„Widerstand und Verfolgung in Salzburg 1934 – 1945”.

Zwei Bände.

(Wien - Salzburg 1991, Österreichischer Bundesverlag – Universitätsverlag Anton Pustet)