februar 2004

Wiglaf Droste

Das Opfer ist immer der Deutsche

Hannah Arendts Diktum, dass man „vor Antisemitismus nur noch auf dem Monde sicher“ sei, ist überholt. Seitdem auch Deutsche als Astronauten ins All gelassen werden, bietet selbst der Mond keine Zuflucht mehr vor dem hunderttausendsten Aufguss deutscher Mythen und Lügen.

Der CDU-Bundestagsabgeordnete Martin Hohmann nahm am 3. Oktober 2003 den Tag der deutschen Einheit wörtlich, wärmte die Nazipropaganda von der jüdisch-bolschewistischen Weltverschwörung auf und bastelte sich in seiner Feiertagsrede ein „jüdisches Tätervolk“. Erst nach Wochen wurde der Wahn publik; Hohmann, von seiner Parteiführung halbherzig gerügt, rechtfertigte sich: Er habe keine „Gefühle verletzen“ wollen, „die Tatsachen sind aber richtig.“ Welche Tatsachen? Eine jüdisch-bolschewistische Weltverschwörung hat es nicht gegeben, auch dann nicht, wenn sie in Martin Hohmanns Kopf existiert.

Verehrung wurde Hohmann durch den Brigadegeneral Reinhard Günzel zuteil, den Chef der deutschen Klassenstreberkiller von der KSK. Der Soldat nahm schriftlich Haltung an vor Hohmann: „Eine ausgezeichnete Ansprache [...], wie man sie mit diesem Mut zur Wahrheit und Klarheit in unserem Land nur noch sehr selten liest und hört.“ Günzel wurde als „verwirrt“ entlassen und hatte plötzlich viel Zeit zum Lesen. Hier eine Empfehlung für ihn:

Am 27. Oktober 2003 fällt im Spiegel ein Günter Franzen über den Schriftsteller Uwe Timm und sein Buch „Am Beispiel meines Bruders“ her. Der kitschige Titel „Links, wo kein Herz ist“ gibt den Ton von Franzens Text vor. Timm hatte, gestützt auf Feldpostbriefe und Tagebuchaufzeichnungen, die Geschichte seines Bruders erzählt, der sich freiwillig zur Waffen-SS meldet, in der Totenkopf-Division seinen Dienst tut, durch Amputation im Feldlazarett beide Beine verliert und 19-jährig stirbt. Aus dem Tagebuch seines Bruders zitiert Timm unter anderem: „75 m raucht Iwan Zigaretten, ein Fressen für mein MG.”

Die Distanz des Schriftstellers Timm zu seinem Bruder missfällt Günter Franzen sehr. Franzen, im Spiegel abgebildet mit schwarz-brauner Oberbekleidung und einem grienenden Ohrfeigengesicht, unterschiebt Uwe Timm das „behagliche Gehäuse einer blitzsauberen Gesinnung”, dem zum Lohn „ein paar rot-grüne Stadtschreibereien winken”, als ob Timm auf so etwas aus wäre – und doziert, was Timm hätte schreiben müssen: „Uwe Timm könnte der Großvater dieses in der Weite Russlands verschollenen Neunzehnjährigen sein. Er könnte sich seines Bruders erbarmen. Er könnte [...] ihm das Sterben erleichtern: Ich werde nie genau wissen, wer du bist und was du getan hast. Aber ich stehe dir bei, weil ich dein Bruder bin.”

Von dieser postumen Sterbehilfe hätte Uwe Timms gut 60 Jahre zuvor gestorbener Bruder nicht mehr das geringste gehabt; den Nutzen erhoffen sich Berufsdeutsche wie Franzen, die an keiner historischen Erkenntnis interessiert sind, sondern an den dumpfen Banden des Blutes. So, auf dem Familienticket, können sie aus den Deutschen von damals und von heute die wahren Opfer des Krieges machen. Das nationale Geflenne hat Konjunktur, und Franzen beherrscht das Geschäft der deutschelnden Groschenschreiberei: „Am Beispiel der imaginären Geschwister, deren Platz wir eingenommen haben, sei erinnert an: die tausend in einer Nacht verbrannten Kinder von Heilbronn [...] die Unzahl der in den Armen ihrer verrückt gewordenen Mütter erstarrten Säuglinge, deren kleine Körper die vereisten Fluchtwege säumten [...]“

Wenn die Deutschen die wahren Opfer sein wollen, müssen andere die wahren Täter sein; so kommt auch ein „jüdisches Tätervolk“ in die Welt. Martin Hohmann nennt das: „Gerechtigkeit für Deutschland, Gerechtigkeit für Deutsche.“ Sein Verehrer Reinhard Günzel sollte den Spiegel abonnieren, da findet er, was er so gern und nur angeblich „sehr selten“ liest.