märz-april 2004

Doc Holliday
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Die Qual der Wahl?

Streben die Groß- und Mittelparteien nicht alle nach der „Neuen Mitte“? Und werden sie so nicht in Wahrheit einander immer ähnlicher? Ein kurzer historischer Abriss sowie einige Anmerkungen zum Parteienmarkt.

Leben heißt wählen

Immer diese Entscheidungen! Es ist eine banale Tatsache, jeden Tag wählt man irgend etwas aus: Interspar oder Billa, Jacke oder Pullover, Erbsensuppe oder Vanillepudding, Puntigamer oder Gösser, ORF 2 oder TW1, Austria Salzburg oder ATSV Zipf, Omo oder Persil und so weiter ad infinitum. Keine Wahl verlangt aber nach so intensiver Überlegung wie die freien Wahlen der Volksvertreter in einer repräsentativen Demokratie. Natürlich soll hier keine Empfehlung für irgendeine Partei abgegeben werden, sondern nur zum Thema ihrer (einstigen und aktuellen) Unterscheidbarkeit assoziiert werden. Quält euch gefälligst selbst!

Deutschnationale Wurzeln?

Der Gutsbesitzer Georg Ritter von Schönerer mauserte sich im 19. Jahrhundert zum Führer der deutschnationalen Bewegung in Österreich. Diese „Alldeutschen“ bekämpften die katholische Kirche, den Liberalismus und den österreichischen Patriotismus. Folgerichtig plädierten Schönerer und seine Anhänger für den Anschluss ans Deutsche Reich.

Dazu kam ein radikaler Antisemitismus. Das pikante an diesem Ur-Deutschnationalismus: Schönerer arbeitete eng mit einigen Persönlichkeiten zusammen, die für die weitere Parteiengeschichte von zentraler Bedeutung sein sollten. Auf der einen Seite mit dem Gründer der Christlich-Sozialen Partei Karl Lueger und auf der anderen Seite mit dem Haupt der Sozialdemokratischen Partei Viktor Adler. Des letzteren Bruch mit Schönerer (um 1880) erfolgte zwar wegen dessen Rassenwahnideen, der Anschlussgedanke an das Deutsche Reich blieb aber noch länger präsent. Mit dem Antisemitismus (in seiner katholischen Variante) hatte der spätere Wiener Bürgermeister Lueger wiederum gar keine Probleme. Er und Schönerer übten auf Adolf Hitler keinen unwesentlichen Einfluss aus. 1921 fanden in Tirol und Salzburg Volksabstimmungen statt, die große Mehrheiten für einen Anschluss an Deutschland ergaben. Auch arbeiteten die paramilitärischen Verbände der teutonischen Freikorps und der österreichischen Heimwehr eng zusammen. Da wollten Sozialdemokraten nicht hinten anstehen: Im „Österreichisch-deutschen Volksbund“ vereinigten sich alle drei Lager in ihrem gemeinsamen Kampf für ein vereinigtes Reich. Erst der Nationalsozialismus setzte diese Ideen in die Realität um. Der Antisemitismus aber blieb in den Köpfen allzu vieler Menschen – und das bis heute. Das nüchterne Resümee fällt so aus: Die klassischen österreichischen Parteien wurzeln in ihrer Entstehungsphase zumindest teilweise im selben Sumpf.

Erste Republik und NS-Zeit

Die Gedenkfeiern zum österreichischen Bürgerkrieg des Februar 1934 und die Auseinandersetzung um die historische Bewertung der Ereignisse sind uns noch in bester Erinnerung. Auf den ersten Blick scheint die Parteien in diesen Jahren nicht sehr viel zu verbinden. Nicht einmal die Radikalität, da die sozialistische Führung keineswegs für eine bewaffnete Auseinandersetzung mit der Staatsmacht und den paramilitärischen christlich-sozialen Heimwehren eingestellt gewesen war. Die unzufriedene Basis (und der oberösterreichische Schutzbundkommandant Richard Bernaschek) entschieden sich für eine aktive und militante Abwehr des faschistischen Ständestaates österreichischer Prägung unter der Führung des Kanzlers und Mussolini-Spezis Engelbert Dollfuß. Die nachfolgende Zerschlagung der Arbeiterbewegung und aller ihrer Vorfeld- und Nebenorganisationen (wie Naturfreunde, Arbeiter-Samariter-Bund, ASKÖ, Volkshilfe, Sängerbund, Musikvereine) trug wesentlich dazu bei, den Nationalsozialisten den Weg zu ebnen. Oftmals saßen die Funktionäre und Mitglieder beider ideologischer Gruppen (Sozialisten und Klerikal-Konservative) gemeinsam in den Kerkern und Lagern – was unweigerlich wieder zu einer Annäherung führte: dem so genannten und viel beschworenen „Geist der Lagerstraße“.

Der Herr Karl und der Proporz

Nach der Hitlerdiktatur etablierten sich wieder die beiden ideologischen Machtblöcke (plus den Kommunisten, die wesentlichen Anteil am antinazistischen Widerstandskampf gehabt hatten). Die Erinnerung an den Bürgerkrieg – und wohl auch Opportunität gegenüber den Siegermächten – führte zu einer Gleichgewichtsdoktrin. Die Blöcke teilten sich Macht und Einfluss nach streng proportionalen Regeln. Der soziale Friede sollte durch ideologische Kompromisse gewährleistet werden. Was man einerseits bei einigem guten Willen als Lernprozess betrachten kann, zeitigte aber auch dubiose Konsequenzen: eine fortschreitende Entideologisierung. Wobei die Konfessionen meist noch immer ihre tradierte Rolle spielen, der Begriff „Klasse“ aber nicht nur als unüblich und unmodern gilt, sondern auch mit dem „Pfui gack“-Etikett versehen worden ist. Die 1945 als Nachfolgerin der Christlich-Sozialen gegründete Österreichische Volkspartei trug diese neue Ausrichtung bereits in ihrem Namen: die diffuse Zuschreibung „Volkspartei“ ist inzwischen ein von den meisten wahlwerbenden Gruppen reklamierter Begriff, dessen Aussagekraft gegen Null tendiert. „Wir sind das Volk“, schreien alle von den Völkisch-Nationalen bis zu angeblich Linken (auch ein Terminus, der von den Definitionsmächtigen desavouiert wurde). Die von fast allen Parteien forcierte Schlussstrich-Mentalität, also über die Nazizeit zu schweigen, beförderte einen bestimmten Menschentypus: Der Herr Karl, im gleichnamigen Satirestück von Qualtinger/Merz genial beschrieben, war als anpassungsfähiger, opportunistischer Wendehals zuerst Sozi, dann Hahnenschwanzler (wie die Heimwehr-Mitglieder dank ihrer Federtracht genannt wurden), dann Nazi und nach 1945 hielt er es mit den Russen, später mit den Amis. Hauptsache man gehört zu den „Siegern“. „Österreich war immer unpolitisch … i maan, mir san ja kane politischen Menschen.“ Viel treffender lässt sich die Malaise kaum beschreiben. Eine (oftmals vorgebliche) Entideologisierung, die – zusammen mit der Umcodierung politischer Termini und im Verein mit anderen gesellschaftlichen Entwicklungen – vor allem auch einer Psychohygiene der Mehrheit geschuldet war. Frei nach dem Motto: In der Nazizeit haben wir auch nur Befehle befolgt und außerdem eh nix verbrochen.

Ware „Politik“ oder: Visionäre müssen zum Arzt

Proporzsystem, Konsensdemokratie sowie das Ende der klassischen, parteipolitischen Lebenswelten und traditionellen Bindungen – verursacht durch die Individualisierung der Lebensstile – führten zur Veränderung der politischen Praxis (so etwa vom Historiker Robert Kriechbaumer konstatiert). Im Sinne eines hemmungslosen Kapitalismus folgt die Ware „Politik“ den Spielregeln der Wettbewerbslogik: Personalisierung, Inszenierung, Virtualisierung, Kommerzialisierung. Dieser unschöne Trend, verbunden mit einer oberflächlich-glatten Ästhetik, bewegt sich vornehmlich auf der Ebene von RTL 2, 9 Live oder ähnlich geistferner Stätten des Grauens. In diesem Sinne heißt es bald: „Salzburg sucht den (Polit-)Superstar“. Die „Licht ins Dunkel statt Solidarität“-Gesellschaft betet derweil ihre neoliberalen Götzen an: militant leistungsorientiert, gewerkschaftsfeindlich, sozialdarwinistisch. Darin gibt sich die Neue Mitte durchaus sehr radikal. Marketing und Event ersetzen inhaltliche Auseinandersetzung. Und letztere hängt nicht von irgendeinem intellektuellen Level ab oder mit Schulbildung zusammen. Stellvertretend für die anderen Kampagnen-Führer und Image-Schnitzer sei hier der frühere Klestil-Wahlkämpfer Eugen Semrau zitiert: „Politischer Erfolg wird nicht von dem bestimmt, was wahr ist, sondern von dem, was die Leute für wahr halten.“ Für „Political Engineering“ wird heute in (fast) allen Parteien das Geld zum Fenster hinausgeworfen. Damit wären wir wieder beim Supermarkt (der Gefühle) angelangt: Omo oder Persil? Oder halten sie es mit „Was bin ich“: Welches Schweinderl hätten’s denn gern?