dezember 2003 - jänner 2004

Wiglaf Droste

Olivenstampede im Käse-Corral

So dumm ein Befehl ist, so hartnäckig hält er sich. „Mit Essen spielt man nicht“: Fast ungläubig hörte ich eine junge Mutter das sagen. Sowas gibt es noch? Ja, sowas gibt es, wenn es durchgereicht wird. Als kleines Kind hat sie den Befehl empfangen, 25 Jahre später gibt sie ihn lupenrein unverfälscht an ihr Kind weiter: „Mit Essen spielt man nicht.“ Sie sagt das ganz automatisch; dass ihr der Befehl selbst nie gefiel oder einleuchtete, spielt keine Rolle, er ist verpflanzt, er sitzt, sie kann ihn aus dem Effeff, wie man so sagt, sie beherrscht ihn im Schlaf und ganz unreflektiert, weil der Befehl ja sie beherrscht, und so lässt sie ihn auf ihr Kind herniedergehen, so lange, bis er auch dort eine Heimat gefunden hat.

Dabei kann man mit Essen wunderbar spielen – wie mit Sprache, mit Matsche, den Geschlechtsorganen, mit was auch immer. Wer die Welt nur sieht und hört, macht sie sich nicht zu eigen – man muss sie auch beriechen, belecken und befummeln, sonst bleibt sie fern. Dass Sand und Pipi nicht gut schmecken, kann nur beurteilen, wer davon kostete. Wenn man in einem fremden Treppenhaus einen bestimmten Kohlgeruch in die Nase bekommt, weiß man, dass man es mit Armut zu tun hat, ohne sie gesehen haben zu müssen.

Das Lieblingsessen auf dem Teller lädt nicht nur zum Spachteln ein. Kartoffelbrei und Soße sind eine großartige Kulisse für den Abenteuerfilm „S.O.S. am Burundi-Stausee“. Dramatisch drücken die schlammigen Wasser gegen den Rand des Staudamms. Wird er halten? Oder wird all das unschuldige Kleingemüse unten im Tal jämmerlich ersaufen? O weh, schon sieht man die ersten Risse im Damm, die Soße scheint sich ihren Weg hindurchzubahnen, starr vor Entsetzen sind Schwarzwurzeln, Möhren und Erbsen, doch dann, in letzter Sekunde, kommt Bert Bratenstück, der schwarze Vorarbeiter, und wirft sich dem Strom der Vernichtung entgegen. Gerettetet, hurra! Das Gemüse wird in der Mundhöhle in Sicherheit gebracht, Brei und Soße werden ebenfalls sukzessive verdrückt, und am Ende geht auch Bert Bratenstück, Held hin oder her, den Weg allen Fleisches: zerkaut den Speiseschlauch hinab. Das ist nicht nur aufregend und lecker zugleich, sondern auch die richtige Antwort auf alle protestantisch motivierten Versuche, ein schlechtes Gewissen herbeizuerpressen: „In Afrika hungern die Kinder, und du spielst hier mit dem Essen.“ Ja, genau, und das schadet der Welt und ihren Bewohnern so, wie ein schlechtes Gewissen ihnen nützt: überhaupt nicht.

Gisela Güzel und ich saßen in meiner Küche beim Abendbrot. Ich hatte kurz zuvor im Kino noch einmal John Fords Western „My Darling Clementine“ gesehen und berichtete fasziniert von Film und Personal: von Walter Brennan, dem grundbösen Old Man Clanton, der seine Söhne peitscht und ihnen befiehlt: „If you pull a gun, kill the man!“; von Victor Mature, dem verzweifelten Doc Holliday, schön und dem Tode geweiht wie seine Geliebte Chihuahua, die von Linda Darnell gespielt wird; von Henry Fonda als Wyatt Earp, der den Mord an seinem jüngsten Bruder rächt – die ganze Legende von der Schießerei am OK-Corral breitete ich noch einmal aus. Gisela Güzel schnitt unterdessen ein Stück Manchegokäse in rechteckige Stücke, aus denen sie auf ihrem Teller eine Fenz errichtete, eine Umzäunung, in die sie allerlei grüne und schwarze Oliven hineinkullern ließ. „Chihuahua Darnell im Käsecorral“, sagte sie. „Und gleich wütet ein Wirbelsturm, dann rollen wieder diese Gestrüppkugeln durch die verlassenen Straßen, weil im Western immer Gestrüppkugeln durch die Straßen rollen, Tumbleweed, bis es blitzt und donnert, und dann gibt es eine Olivenstampede im Käsecorral.“ Wild stupste sie die Oliven auf ihrer käseumrandeten Tellerweide hin und her. Alle Zeichen standen auf Sturm. Die Oliven würden durchgehen und ausbrechen, alles würden sie niederrennen und verwüsten. Schrecklich! Etwas musste geschehen – und plötzlich erfüllte Gesang meine Küche, als hätte der Westernsänger Frankie Lane meine Stoßgebete erhört:

Furchtsam rollen die Oliven/Im Corral herum/Bibbern zittern miteinander/

Vor Entsetzen stumm

Aus Angst vor dem Blizzard/Sind viele schon ganz grün/Einige sogar schon schwarz/Und alle wolln sie fliehn

Da kommt aus dem Dunkel/Ein Cowboy, er singt/Ein Lied, das für Oliven/Sehr beruhigend klingt:

Corral, Corral/Käsecorral/Keine Stampede/Im Käsecorral

Langsam fassen die Oliven/Wieder neuen Mut/Kein Gehoppel in der Koppel/Es geht ihnen gut

Die schönste der Oliven/Rollt an den Zaun heran/Fasst sich ein Artischockenherz/Und spricht den Cowboy an:

Für dich, liebster Cowboy/Tu ich, was du verlangst/Doch vorher sing nochmal dein Lied/Es nahm mir meine Angst

Corral, Corral/Käsecorral/Nie mehr Stampede/Im Käsecorral

Die Wirkung war erstaunlich. Wie der Gesang der Viehhirten sich beruhigend auf eine nervöse Herde auswirkt, so kehrte auch bei den aufgepeitschten Oliven Friede ein. Frau Güzel beendete ihre Oliveneinflüsterungen und begann kauend, den Corral samt Inhalt seiner finalen Bestimmung zuzuführen. Die Käsestücke und die Oliven verabschiedeten sich sehr artig, einige knicksten sogar, und alle bedankten sich dafür, dass sie nicht einfach mirnichts, dirnichts weggefressen wurden, sondern, wie ihre Gastgeber und Aufesser, ein schönes Vorspiel hatten.