november 2003

gelesen

Bücher

Hans-Otto Hügel (Hrsg.)

Handbuch Populäre Kultur

Stuttgart 2003, Metzler Verlag

Der für seine sorgfältig edierten kultur- und literaturwissenschaftlichen Lexika bekannte Metzler-Verlag widmet sich in diesem Handbuch erstmals (jedenfalls was den deutschen Sprachraum angeht) auf umfassende und systematische Art und Weise dem Phänomen Populärkultur. 86 Autoren stellen in gut 120 Artikeln nahezu alles Wissenswerte zum Themenkomplex vor. Herausgeber Hügel erläutert in seiner Einführung historische Zugangsweisen und prinzipielle Forschungsprobleme. Populäre Kultur stellt kein interdisziplinäres, sondern ein eigenständiges Forschungsfeld mit einer eigenen Fragestellung dar. Daraus leitet der Autor auch die Systematik des Handbuchs ab. Am Beginn stehen die verschiedenen Konzepte der Populärkultur: Die behandelten Stichworte reichen von Alltags-, Erlebnis-, Freizeit-, Jugend-, Massen-, Sozio-, Sub- und Volkskultur bis zu Unterhaltung und Kulturindustrie. Diesen Basisbegriffen folgen in alphabetischer Reihenfolge Artikel zu den wichtigsten Orten der Unterhaltung (Kino, Stadion, Volksfest usf.), den Speicher- und Darbietungsmedien (von CD-ROM bis Zeitung), den Distributionsmedien (Fernsehen, Flugblatt, Internet, Plakat, Radio), den Geräten (u. a. zu Flipper, Musikbox und Walkman), den Distributionswegen (etwa Lesezirkel und Videothek), den Sparten (Film, Musik, Theater, Sport, Werbung), den Rezeptions- und Funktionsfiguren (z. B. Fan, Sammler oder Moderator), den Medien- und Genrefiguren (Diva, Rebell, Star usf.), den Erzählweisen (Comic, Fotoroman, Videospiel u. ä.) sowie zu Grundbegriffen (von Action über Kitsch bis zur Zensur). Trotz dieser überbordenden Materialfülle vermisst der kritische Leser einige Stichworte (wie Trash oder Mainstream). Was der ebenso profunden wie reichhaltigen Information, die auch von in Salzburg bestens bekannten Autoren serviert wird (Georg Seeßlen, Siegfried Zielinski oder „Lokalmatador” Thomas Steinmaurer – letzterer vom hiesigen Institut für Kommunikationswissenschaft), keinen Abbruch tut. Ein wichtiges und längst überfälliges Werk!

Doc Holliday

Dirk Ofner

Einfach leben

Gunskirchen 2002, Edition Pangloss 19

Der Salzburger Dirk Ofner kann mit Fug und Recht als Lokalgröße bezeichnet werden. Jenseits aller Doppeldeutigkeit ist damit in erster Linie seine Tätigkeit in der hiesigen Literaturszene gemeint: Er gehört zu den Gründern der Gruppe „Erostepost“ (1987) und den Herausgebern der gleichnamigen Literaturzeitschrift. Mit „Einfach leben“ legt er seinen ersten Roman in Buchform vor. Darin erzählt er in vier Teilen (und einem Nachwort) Episoden aus dem Leben von zwölf Hauptpersonen, alle im Alter zwischen 20 und 40.

Diese Figuren lassen sich leicht als Vertreter einer „Just 4 Fun-Generation” identifizieren: oberflächlich, beziehungsunfähig, individualistisch, maßlos, genusssüchtig.

Die Geschichten der Protagonisten treffen sich immer wieder, bevorzugt in diversen Lokalen der Mozartstadt (und des benachbarten Freilassing), ohne dass die Personen je eine Chance haben, ihre Isolation zu durchbrechen. Was sie wollen bekommen sie nicht, was sie denn bekommen wollen sie eigentlich nicht. Diese negative Utopie des Autors durchzieht jede Seite des Buches und wird durch das öfters wiederkehrende Stilmittel der grotesken Übertreibung noch akzentuiert. Einen anderen stilistischen Kunstgriff bildet die Brechung des Romans durch Selbstreflexion, soll heißen der Autor thematisiert immer wieder die Produktion des Textes. Was den Text einerseits in ein postmodernes Fahrwasser führt, andererseits auch eine weitere mögliche Lesart zulässt. Nämlich die als Geschichte des schwierigen Entstehungsprozesses dieses Buches – mit der zumeist erfolglosen Suche nach Sponsoren. (Dabei kennt man den Titel eigentlich als Werbeslogan einer Brauerei, die aber nicht gewillt war den Autor finanziell zu unterstützen: ein Fall von Live And Let Die?!). Auf dieser Ebene funktioniert der Text als Beschreibung einer sozialen Realität, die nicht nur für Produzenten von Literatur Gültigkeit hat. Und das hat auch nichts mit Larmoyanz zu tun.

Doc Holliday

W.E.B. Du Bois

Die Seele der Schwarzen

Orange Press 2003, 319 S.

Als „The Souls of Black Folk“ erstmals 1903 veröffentlicht wurde, legte W.E.B. Du Bois, der zuvor schon 1895 als erster Afro-Amerikaner an der Harvard University seinen Doktor gemacht und in Berlin bei Max Weber Soziologie studiert hatte, nichts weniger als den modernen Grundstein selbstbewussten afro-amerikanischen Denkens. Damit ist Du Bois nicht nur einer der bedeutendsten schwarzen Intellektuellen des 20. Jahrhunderts geworden. Schon beim ersten Panafrika-Kongress in London (1900) stellte er fest: „Das Problem des 20. Jahrhunderts ist das Problem des Rassismus”. Für Du Bois ging es um „materiellen Verhältnisse”, die Rassismus bedingen und die als Rassismus in Erscheinung treten.

Es wundert wenig, dass es für Du Bois in der McCarthy-Ära sehr ungemütlich wurde. Als Reaktion darauf trat er 1961 demonstrativ der kommunistischen Partei Amerikas bei (1950 hatte er schon für den US-Senat als Vertreter der Amerikanischen Arbeiterpartei kandidiert) und wurde auch deshalb zur Symbolfigur für das Black-Power-Movement wie für die militanten Black Panther. Sind doch Du Bois’sche Definitionen wie das „doppelte Bewusstsein“, das sich nur als weiße Zuschreibung („Nigger“, „Negro“) erleben kann, Basics fast aller späteren afro-amerikanischen (Selbst)Erkenntnis- und Selbstermächtigungsprozesse. So sind auch die „Seelen“ im Titel programmatisch als Zeichen gespaltener Subjektivitäten und eines doppelten Bewusstsein zu verstehen, die später im Zuge der Bürgerrechtsbewegung (James Browns „I’m Black And I’m Proud“) aber auch bei Sun Ras Space-Jazz, in der Electric-Fusion-Phase von Miles Davis, bei George Clintons P-Funk (Funkadelic/Parliament) sowie im HipHop (Public Enemy) wie im afrodiasporischen Alien-Techno (Underground Resistance) zu neuen, dabei aber auch nicht immer unproblematischen „schwarzen“ Subjektivitäten führten. Du Bois: „So ein Doppelleben mit doppelten Gedanken, doppelten Pflichten und doppelten sozialen Klassen muss zur Entstehung doppelter Worte und doppelter Werte führen und den Geist zur Verstellung oder zur Revolte, zur Scheinheiligkeit oder zum Radikalismus verführen.“ Du Bois siedelte 1960 mit einem Lehrauftrag nach Afrika, wo er 1963 als ghanaischer Staatsbürger starb.

Didi Neidhart