november 2003

Doc Holliday

Wenn der Mars(c)hall zweimal klingelt

Musikarchäologie und jugoslawische Identität

„Musik verbindet und ich habe viele gute Menschen durch Musik kennen gelernt.“ Der diese Worte mit einem Anflug von Lächeln im Gesicht ausspricht, gibt sich sehr bescheiden, weiß aber durch profunde Kenntnisse einer wenig bekannten Szene und Epoche der Rockgeschichte zu überzeugen. Die Rede ist vom 46-jährigen Miro Golic, einem echten „Sohn“ des (inzwischen bekanntlich) zerschlagenen Jugoslawien. „Ich bin in Banja Luka/Bosnien geboren, eigentlich aber Serbe, der die kroatische Staatsbürgerschaft besitzt – und dazu noch Pazifist.“ Diese biografischen Daten samt dem humanistischen Bekenntnis sollten genügen, um zu erklären, warum ich Golic, seine Frau Darka und Sohn Jasmin in ihrer Lieferinger Wohnung treffe. Der präventive Deserteur lebt nun seit elf Jahren in Salzburg. Bei Ausbruch des jugoslawischen Bürgerkriegs erkannte Miro die Zeichen der Zeit und verließ die Heimat, um dem Einberufungsbefehl zu entgehen. Keine Sekunde zu früh: Sein Haus in Kroatien, obwohl abseits der Frontlinien gelegen, wurde von (ehemals guten) Nachbarn in die Luft gesprengt. Golic verlor fast alles, auch seine umfassende Plattensammlung von etwa 2000 LPs.

In dieser Kollektion dominierten Platten von jugoslawischen Rockbands. Was viele in unseren Breiten wohl nicht wissen: Im Tito-Jugoslawien existierte eine lebendige Rockszene, die internationale Vergleiche nicht zu scheuen brauchte. Alles begann in den frühen 60ern – nicht ganz zufällig zu einer Zeit als Migranten aus Jugoslawien in Mittel- und Westeuropa Arbeit suchten. Zwar konnte man damals auf dem Balkan noch keine (ausländischen) Platten kaufen, und die Massenmedien ignorierten die jungen Krachmacher, dennoch spielten unzählige Gruppen Coverversionen von Beat- und Rock-Hadern. Ein wichtiger Katalysator war der Sender „Radio Luxemburg“, der dem Pop ja auch in unseren Breiten erst zum Durchbruch verhalf. Diese Jugendszene, so Golic, wurde von den Autoritäten toleriert. In den späten 60ern und 70ern entwickelten einige Bands zunehmend eigenständige Ausdrucksformen, die mitunter an die Originalität des deutschen Krautrock heranreichen. Inzwischen existierten in Belgrad, Zagreb, Sarajewo und Ljubljana staatliche Labels, die übrigens auch Lizenzpressungen der wichtigsten britischen und amerikanischen Produktionen herstellten. „Progressiv war das Wort, das von Rockanhängern damals am häufigsten ausgesprochen wurde“, schreibt der Journalist Zeljko Markovic 1981 in dem ebenso informativen wie vergriffenen Sammelband „EuroRock“. Genau diese Epoche und diesen Stil des Progressive-Rock schätzt Miro Golic (neben dem einige Jahre danach über das Land hereinbrechenden Punk) am meisten. Damit bleibt er heutzutage aber keineswegs allein.

Das Subkulturphänomen der Vinylsammler existiert rund um den Globus. Seltene und obskure Platten werden zu astronomischen Preisen gehandelt. Viele Tonträger, die Golic 1992 verlor, besorgte er sich wieder – auch um mit ihnen Handel zu treiben. Aus seinem Hobby machte er einen Zweitberuf. An unzähligen Wochenenden bereist Miro mit seinem kleinen, aber feinen Angebot Plattenbörsen in Österreich und Deutschland: tauschen, Kontakte knüpfen, verkaufen. Davon kann man zwar nicht leben, aber die Erinnerung an die eigene Jugend und die Heimat bewahren. Aus dem gleichen Grund plant Golic auch ein Label („YUforYOU-Records“), das wichtige Platten wieder auflegen soll. Das momentane Hauptproblem stellen die bürokratischen Hindernisse, die der Bürgerkrieg hinterlassen hat, dar: Rechte von serbischen Bands liegen in Zagreb und umgekehrt.

Der jugoslawische Weg nach 1945, der Selbstverwaltungssozialismus unter Marschall Tito, kannte nicht nur die Reisefreiheit, sondern ermöglichte eine humanistische Bildung. Französische, deutsche, russische Literatur und Philosophie jenseits des sozialistischen Kanons (und Realismus) standen auf dem Stundenplan und zur Diskussion. Kein Wunder dass diese Weltoffenheit einen guten Nährboden für interessante Musiker (Goran Bregovic, der in Sarajewo mit Glam-Rock begann und inzwischen als einer der führenden Exponenten der weltweit beachteten Balkan-Blasmusik gilt) oder Filmemacher (Emir Kusturica) bildete. Menschen und Künstlern dieses Formats fühlt sich die Familie Golic verbunden. „Hier in Salzburg gehen wir am liebsten in die ARGEkultur oder in Das Kino“, bekennen sie und Miro ergänzt: „Ich muss mich nicht integrieren, ich habe immer so gelebt“.

Darka und Miro Golic engagieren sich – zusammen mit einigen Freunden - auch in der Radiofabrik. „Vecer uz Radio“ nennt sich ihre Sendung in serbokroatischer Sprache. So hieß früher eine legendäre Sendung von Radio Belgrad, die in etwa mit der heimischen „Musicbox“ (für alle Nachgeborenen: die Keimzelle von FM 4) zu vergleichen wäre. „Wir wollen unsere Kultur, die man hierzulande nicht kennt, pflegen und vorstellen“, erklärt Miro, und Darka fügt hinzu: „In Jugoslawien sind wir aufgewachsen und es ist noch viel von diesem Land in unseren Herzen geblieben. Viel Nostalgie und der Versuch gleich gesinnte anzusprechen“. Das machen die Golic, die sich und ihresgleichen – also alle aufgeklärten Weltbürger aus dem ehemaligen Jugoslawien – als die wahren Verlierer des Krieges sehen, auf sehr sympathische und überzeugende Weise.

Tipps: „Vecer uz Radio“ (Radiofabrik, 107,5 MHz, jeden Donnerstag,

20.00 bis 21.00 Uhr)

Wer sich für Psychedelic-, Folk- und Progressive-Platten interessiert, kann Miro Golic unter der E-Mail-Adresse: yuforyou@i-one.at kontaktieren.