november 2003

Wiglaf Droste

Die Republik der Schaumschläger

Universal-Chef Tim Renner träumt von einer neuen deutschen Kultur des Stammelns: „ganz aktiv, schmutzig und direkt“

Tim Renner ist der Chef des größten deutschen Musikkonzerns Universal Music Germany. Großklotzig hat sich die Firma an der Spree aufgestellt und sich ein feistes „Zuhause“ auf die Fassade gemalt. Doch die Behauptung, dass da, wo die Universal sei, automatisch auch die Musik spiele, hat allenfalls die Suggestivkraft einer Latrinenparole. Seit dem Umzug von Hamburg nach Berlin schrumpft die Firma rapide. So wuchs in Tim Renner ein Traum, zumindest einer für die „Leben“-Beilage der „Zeit“ vom 25. 9. 2003. Der Traum ist drei Wörter lang: „Das Business boomt.“ Wahr werden soll der Traum von Boom und Business, so hat Renner es sich ausgedacht, im Jahr 2010. „Heute ist ein großer Tag in Berlin“, schwärmt er. „Ich bin eingeladen zur Inauguration von Nena – unserer neuen Bundeskanzlerin.“ Nena? Deren Zeilen „Ich lass dich nie mehr allein, das ist dir hoffentlich klar“ das Pendant sind zum scheidenkrampfauslösenden „Ich lieb mich in dir fest!“ von Hartmut Engler und Pur? Doch, Nena soll es sein, Renner will es so: „Wir müssen in die Parteien und Strukturen. Wir müssen ihnen Transparenz verleihen, hieß es im Wahlprogramm der neuen Kanzlerin.“ Renner begeistert sich um Kopf und Kragen: „Die Floskeln haben sich geändert, ihr Aggregatzustand nicht. Luftblasen gehören zur symbolischen Politik nun mal dazu. Und Nena weiß, wie symbolische Politik funktioniert.“ Aber nicht einmal Tim Renner ahnt, was diese armen, gequälten Sätze sagen wollen.

Deutsche, die ihrer Muttersprache ohnmächtig sind, sorgen sich besonders gern um Deutschland und die deutsche Kultur. „Deutschland ist auf dem Weg zu einer neuen Kultur“, johlt Renner in fröhlicher Idiotie und hat dabei „die ganze Zeit Rammstein im Ohr.“ Die trübe Truppe, bei Renner unter Vertrag, hält Renner für „das Signal einer provokanten nationalen Kultur“ – und kommt in Fahrt: „Das war deutsch, das wurde auf deutsch gesungen, und die Welt hörte zu.“ Bevor ihm der rechte Arm hochruckt, versucht Renner abzumildern: „Halbstark waren wir einmal, jetzt dürfen wir etwas ruhiger sein.“

Andere Menschen haben einen Kopf, Tim Renner hat einen Brückenkopf: „Berlin war Frontstadt. Berlin ist Brückenkopf.“ So markig und nullundnichtig schlagzeilt es aus Renner heraus. „Pop und Politik – auch in Nenas Wahlkampf eine unschlagbare Kombination. Das Comeback des Schweißbandes, diesmal als Werbeträger: Nena wagen.“ Mit einem Schwall verbfreien, dröhnenden Gestammels versucht Renner sich in eine selbstbesoffene Euphorie hineinzuquatschen und gleitet regelmäßig auf seiner eigenen Pidgin-Sprache aus. Über den Reichstagskuppelkonstrukteur Norman Foster jubelt Renner: „Glückwunsch, ein Brite durfte unser Heiligstes updaten. Das war schon vor mehr als zehn Jahren gelebtes Europa!“

Gelebtes Europa, gestorbenes Gehirn. Flacher gedacht als Renner hat keiner je. Gehirnwäscheartig knallt er sich Sätze zwischen die Ohren, damit da wenigstens irgendetwas ist: „Künstler sind Teil unserer Gesellschaft. Sie haben eine Aufgabe. Wenn sie heute etwas bewirken wollen, müssen sie politisch werden. Nicht nur über Parolen in ihren Songs, sondern ganz aktiv, schmutzig und direkt.“ Ganz aktiv, schmutzig und direkt: Da ist Renner bei einem anderen Marktführer gelandet, bei Dieter Bohlen, der Nena zwei Tage nach Renners „Zeit“-Brei in „Bild“ ansabberte: „Hallo Nena, hatten wir Sex? Haben wir gerattert?“

Ich weiß das nicht und will es auch nicht wissen. Ich will noch ein letztes Mal Tim Renner lauschen, der sich mit einem esoterischen Dreier in den Schlaf lüllt: „Nur etwas, womit wir uns beschäftigen, können wir verstehen. Nur was wir verstehen, können wir kritisieren. Nur was wir kritisieren, können wir verändern.“ Tim Renner und seinem Brückenkopf, soviel steht fest, geht es sehr schlecht. Ist das nicht eine gute Nachricht?