oktober 2003

Doc Holliday
titel

Artisten, Tabus, Aktionen

Einige grundsätzliche Anmerkungen zu Skandal, Kunst und Aktionismus

Das mediale Sommertheater des heurigen Jahres geriet im Salzburger Provinzstadl zur kindischen Farce: Arc de Triomphe nennt die Künstlergruppe Gelatin eine aus Kinderplastilin geformte Skulptur, die einen nackten Mann darstellt, der aus seinem erigierten Penis in den eigenen Mund uriniert. Die Figur wurde im Auftrag der Direktorin des Salzburger Museums Rupertinum, Agnes Husslein, ursprünglich am Max-Reinhardt-Platz (also in der Nähe des Festspielhauses) errichtet.

Mit „bescheidenen“ Mitteln gelang es Husslein unter freundlicher Mithilfe der Lokalpolitiker (von FPÖ über ÖVP bis zur SPÖ) – die am Triumphbogen keinen Gefallen fanden – der Festspielstadt einen so genannten Kunstskandal zu schenken. Die Aufregung um diesen Eklat verhalf immerhin einigen Medien zu Füllmaterial beim Stopfen der Sommerlöcher sowie der Feuerwehr zu einem ungewöhnlichen Einsatz – schließlich musste der „Kunstschiffer“ zuerst hinter einem Holzverschlag versteckt werden. Man merke: Dort wo ein Phallus, da wird auch früher oder später genagelt. Wirklich gesäubert war die Mozartstadt aber erst nach dem Abtransport der Plastilin-Provokation in ein Wiener Depot. Soweit eine knappe Rekapitulation eines putzigen und domestizierten Skandälchens.

Kunst – eine

Begriffsklärung

Der Gelatin-Skulptur wurde in einer ebenso hitzigen wie oberflächlichen Debatte der Kunst-Charakter abgesprochen. Was also ist Kunst? In den postmodernen Zeiten der Beliebigkeit wissen das eventuell nur die szeneinternen Spezialisten von Kunstkritik und Kunstbetriebsleitung, die den Kanon festlegen. Zur Kunst gehören zumindest jene Gegenstände, die in Museen aufbewahrt und ausgestellt werden – sofern sie auch dezidiert als Kunstobjekte ausgegeben sind. Diese Definition gefällt durch Pragmatismus und Einfachheit. Wer darüber nachdenkt, wie etwas zu Kunst wird, muss Kontext und Umgebung in Rechnung stellen. Um alles weitere kümmert sich dann ein schwer durchschaubarer Markt, der als Schnittpunkt ästhetischer Überlegungen und merkantiler Vermittlung erst den realen (Stellen)Wert der Kunst bestimmt. Schließlich sind Künstler Unternehmer, wenn auch die große Mehrheit von ihnen, die nicht zu den Stars gehören, in prekären Arbeitsverhältnissen dahinwurschtelt.

Kunst und Skandal

Der Publizist Günther Nenning meinte einmal, dass Kunst alles dürfe und nichts müsse. Vorausgesetzt der Tabubruch hält sich in einem gewissen Rahmen. Bei der so genannten „Uni-Ferkelei“ (offizieller Titel der Veranstaltung: „Kunst und Revolution“) im Juni 1968 brachen die nahezu vollständig versammelten Protagonisten des Wiener Aktionismus gleich mehrere Verbote: Nacktheit, Notdurft verrichten, Onanie, Auspeitschen, Selbstverstümmelung – und das alles unter Absingen der Nationalhymne und auf der ausgebreiteten österreichischen Fahne. Die von anwesenden Boulevardjournalisten aufgeschreckte Öffentlichkeit tobte, und die Justiz brummte den Künstlern Gefängnisstrafen auf oder trieb die Tabubrecher ins Exil. Hermann Nitsch, der berühmteste Wiener Aktionist und Schutzpatron aller Schlachter, schreckt inzwischen mit seinen „Faschingsumzügen“ (Michael Scharang) nur noch Kleinbürger vom Format des „Porno-Jägers“ Martin Humer. Das nennt man wohl eine wunderbare Verwandlung: vom Staatsfeind zum Staatskünstler.

„Das Neue oder das Besondere gibt sich dadurch zu erkennen, dass es dem Massengeschmack oder der Tradition oder einem ästhetischen Grundkonsens zuwiderläuft“, schreiben die Kunsthistoriker Sabine Schaschl und Peter Zimmermann in der Studie „Skandal: Kunst“. Die Kulturgeschichte der Zweiten Republik protokolliert zahlreiche Kunstskandale. Es liegt in der Ambivalenz des Themas, dass nicht selten missliebige Folgen für die Künstler ausbleiben. Im Gegenteil: Die Verstörung, die den Skandal begleitet, zeitigt oft durchaus Positives für die Verursacher. Eine erhöhte Aufmerksamkeit der Öffentlichkeit führt – zumindest kurzfristig – zu einer besseren Positionierung auf dem Kunstmarkt. „Ein berechnender und berechenbarer Skandal gehört zu den Erfolgsstrategien der Moderne“, so Zimmermann. Über tatsächliche inhaltliche oder formale Qualitäten sagt dies rein gar nichts aus. Der gewiefte Künstler, der die Mechanik und Dynamik dieser Prozesse durchschaut und der seine prekären Arbeitsverhältnisse satt hat, wird förmlich eingeladen auf einen Skandal zu spekulieren. Skandale besitzen zwar eine gewisse Struktur, aber gerade durch die mediale Berichterstattung kann eine unvorhersehbare Dynamik entstehen. Der völlig kalkulierte Skandal scheint nur in den seltensten Fällen möglich. Das ebenso zynische wie geschäftstüchtige Kalkül lautet: Alle Beteiligten brauchen einander und gehören zu den Gewinnern. Der Künstler kann zumindest seinen Bekanntheitsgrad, meist auch den Marktwert steigern (wer kannte schon die Gruppe Gelatin vor ihrer Piss-Skulptur und das skandalisierte Objekt der Society-Begierden kostet mittlerweile 200.000 Euro!), die Politiker können sich ungeniert billigem Populismus hingeben, indem sie die Wünsche der spießbürgerlichen und ignoranten Öffentlichkeit erfüllen sowie sich als Hüter von Anstand und Moral gerieren; und die Dritten im Bunde, die Medien, machen Auflage, Quote und Schlagzeilen. Wenn es Skandale nicht ohnehin in schöner Regelmäßigkeit gäbe, müssten sie erfunden werden.

Das Kunstwerk aber tritt völlig in den Hintergrund. Nicht allein dass viele der Empörten den Gegenstand der Skandalisierung gar nicht kennen, geht die Provokation auch mit einer Polarisierung einher. In einem Profil-Kommentar konstatierte Karl-Markus Gauß zu Recht, dass „Kunst- und Zensurdebatten in Österreich nichts als Zwangsalternativen produzieren“. Jenseits aller Hysterie bleibt nüchtern festzuhalten, dass von der Kunst gemeinhin keine Gefahr für Gesellschaftssysteme ausgeht. Ein Kunstbetrieb, der der Ökonomie der Aufmerksamkeit gehorcht, erinnert eher an die kalkulierte, wenn auch nicht bis ins letzte choreographierte Show beim American Wrestling.

Klärende Verwirrung:

Kunst und Interventionen

Innerhalb des konventionellen Kunstbetriebs verpufft (nahezu) jede Provokation folgenlos. Wenn die Kunst einmal die gemeinhin auch als Museen bekannten Sicherheitsverwahranstalten verlässt, also im öffentlichen Raum platziert wird, scheinen Eingriffe auf politischer Ebene immerhin möglich. Vorausgesetzt die Funktion dieser öffentlichen Kunst besteht nicht bloß in einer niedlichen Verzierung oder Möblierung des urbanen Umfeldes. Nicht in jedem Fall darf den in diesem Feld operierenden Künstlern Beihilfe zur „Aufwertung“ der städtischen Lebensräume im Sinne der Mächtigen unterstellt werden. Unterschiedliche Formen symbolischer Politik berühren seit gut zwei Jahrzehnten immer wieder die Kunstdiskurse.

Das mögliche emanzipatorische Potenzial von Kunst zeigen Aktionskünstler wie der Münchner Wolfram Kastner oder Gruppen, die unter dem Oberbegriff „Kommunikationsguerilla“ politische Anliegen auf unkonventionelle Weise thematisieren. Es geht dabei um einen spielerischen Umgang mit Zeichen, um ein Überschreiten der Grenzen von Kunst und Politik.

Ein Beispiel für Künstler, die zu Polit-Aktivisten wurden, ist das Berliner „Büro für ungewöhnliche Maßnahmen“. Mit Happenings, Straßentheater und Rollenspielen sollen die Zustände im real existierenden Turbo-Kapitalismus der Lächerlichkeit ausgesetzt werden. Wo die üblichen Widerstandsaktionen (Unterschriftenlisten, Flugblätter, Demos) versagen, formulieren die Aktivisten mit künstlerischen Mitteln ihre Kritik und arbeiten gesellschaftliche Prozesse im Idealfall mit den Betroffenen auf. Die Missstände bis zur Kenntlichkeit entstellen, lautet die Devise und Zielvorgabe dieser Guerilleros. Wenn die Politik erbärmlich und lächerlich wird, ist es die Aufgabe der Kunst, diese Politik der Lächerlichkeit preiszugeben. Dem Steine werfenden Straßenkämpfer setzen die Aktivisten die spielerische Ironisierung der neoliberalen Realität mittels der Performance entgegen. Das ist eine andere Form von Kunst, weit entfernt vom konventionellen, elitären Kunstbetrieb mit seinem penetranten Starkult.

„Der Skandal fängt an, wenn die Polizei ihm ein Ende macht“, lautet ein bekannter Aphorismus von Karl Kraus, der auch auf die Reaktion der Ordnungskräfte im Falle von Geschäftsstörungen durch künstlerische Aktionen zutreffen kann. Was beispielsweise 2001 in Genua (etwa mit Mitgliedern der VolxTheaterKarawane) geschah, stellt einen Rückfall (?) in protofaschistischen Polizeistaatsterror dar. Das aber ist ein wirklicher Skandal: nicht der Salzburger Kinderfasching mit steifem Plastilin-Schwanz.