september-oktober 1999

Doc Holliday

Der ewige Kulturkampf

Über Harmonie, Zensur und das Gericht als Ort praktischer Kunstkritik

Der Weltuntergang ist ja neulich trotz Sonnenfinsternis verschoben worden. Diesen Um-stand nutzen die Kulturpessimisten allerorten, um schwere Geschütze gegen moralverderbende und jugendgefährdende Kunstwerke aufzufahren. Knapp bevor die Millenniumswanzen endgültig die letzten Gehirnzellen jausnen, sollen wohl alle wichtigen kulturtheoretischen Strömungen, die das 20. Jahrhundert hervorgebracht hat, auf den Geschichtsmisthaufen geworfen werden.

Weil Politiker in Wahlkampfzeiten wie diesen immer wieder gerne einen populistischen Coup landen, zauberte unser Bundespräsident, respektive sein Ghostwriter, bei der Eröffnungsrede der Salzburger Festspiele gleich mehrere angestaubte Phrasen aus dem Sepplhut. Unter Berufung auf Hugo von Hofmannsthal forderte das Staatsoberhaupt »Werktreue«, »humanistisches Bildungstheater«, »Harmonie« sowie »Stil und Geschmack« ein. Auch solle das »unverwechselbar Österreichische« hochgehalten werden (der Gamsbart?). Die Kunst sei eben für das Gute, Wahre und Schöne zuständig. Der österreichische Heimatfilm der Nachkriegszeit dürfte am ehes-ten diesen Kriterien genügen. Der kulturkonservative Sturm, den die Rede auslöste, hatte praktische Konsequenzen: erstmals in der Festspielgeschichte wurde Jugendlichen unter 16 Jahren der Besuch einer Festspielproduktion, nämlich von »Schlachten!« nach Shake-speare, behördlich untersagt. Als wenig einfallsreiche Begründung für das Jugendverbot musste der bei allen Bildungsbürgern beliebte Vorwurf, dass im Stück »Gewalt verherrlicht werde«, herhalten. Kennt denn niemand Shakespeare, dessen Werke ja schließlich Macht, Willkür, Korruption, Sex und Gewalt thematisieren? Die völkische Meinung artikulierte sich prompt in Form von verzweifelten Leserbriefen: »Was ist aus unserer Gesellschaft geworden, die mit keiner Wimper zuckt und sogar zur Kunst erklärt, was doch nur auf obszöne Weise schockieren und Aufmerksamkeit erregen will. Aber nicht nur das. Der Zuseher wird hinabgezogen in Bilder, die verwirren und Zerstörung anrichten. Depressionen können die Folge sein, Mut- und Orientierungslosigkeit« (SN, 10.8.99).

Eine Diskussion über das Verhältnis von Gewaltdarstellungen und Realität taucht auch auf populärkultureller Ebene immer wieder auf. Führend in dieser Hinsicht sind eindeutig die USA. Um der dort herrschenden Amokläufer-Plage Herr zu werden, sind die Schuldigen schnell ausgemacht: Filme, Musikvideos, Computerspiele und »satanistische« Texte in der Rockmusik, die die Täter zu ihren Verbrechen inspirieren sollen. Neu ist, dass die Thematik von nun an vor Gerichten ausverhandelt werden kann. Am 5. April 1999 fällte das Oberste Gericht ein Urteil, das für alle Kulturschaffenden weitreichende Konsequenzen haben könnte. Der US Supreme Court gab der Familie eines 1995 durch Schüsse schwer verletzten Mädchens aus Louisiana die Erlaubnis, den Regisseur Oliver Stone, Time Warner und andere »Verantwortliche« zu klagen, da deren Film »Natural Born Killers« die Vorlage für das verübte Verbrechen abgegeben habe. Eine wahrhaft bahnbrechende Entscheidung, die Prozesse gegen Künstler auf bedrohliche Weise erleichtert und damit einer (mehr oder weniger freiwilligen Selbst-)Zensur den Weg ebnet. So ganz nebenbei wird noch das prinzipielle Recht auf Meinungsfreiheit (der erste Zusatz zur Verfassung) außer Kraft gesetzt. Auch scheint es niemanden zu kümmern, dass die wissenschaftliche Basis für dieses Urteil fehlt. Kein ernstzunehmender Wirkungsforscher vertritt eine eindimensionale Imitationstheorie, die andere Faktoren wie Sozialisation, kulturelle Gewalttraditionen, die Gesellschaftsform usw. ignoriert. Im April bombardierte die NATO gerade fleißig Jugoslawien. Ob dies einer teuflischen TV-Serie vom Kaliber der »Rauchenden Colts« zu verdanken war, bleibt weiterhin ungeklärt.