september-oktober 1999

Günther Marchner
titel

Nicht vergessen: No risk, no fun!

Probleme der Salzburger Kulturbiotope

Die verlorene Unschuld der Kulturszene

Früher, sagen wir so gegen Ende der 70er Jahre, war alles noch einfacher. Da gab es die elitäre Hochkultur und die Traditionalisten als Feindbilder, weil sie so abgeschlossen, starr und konservativ waren und nichts anderes als sich selbst gelten lassen wollten. Und da gab es die progressive Kulturszene, die etwas anderes wollte. Aus diesem Selbstverständnis heraus forderten ihre VertreterInnen Rechte, Raum und Geld für eine andere, offenere, demokratische, sozial und politisch engagierte Kunst und Kultur ein. Vor diesem Hintergrund einer kulturellen Bewegung und der mühsam errungenen Bereitschaft der Kulturpolitik zu Ausbau, Öffnung und Förderung von Neuem ist mittlerweile ein nicht mehr wegzudenkendes Netz an zeitgenössischen Kulturangeboten und -einrichtungen entstanden. Ein neues Milieu ergänzt, erweitert und bereichert – produzierend, vermittelnd oder konsumierend – das traditionelle Kulturleben dieser Stadt.

Heute scheint alles komplizierter und widersprüchlicher zu sein. Manche »Traditionelle« stellen mehr in Frage und versuchen sich mehr zu bewegen als die früher Beweglichen. Manche zeitgenössische Einrichtungen wurden zur »Tradition« und tragen Merkmale früherer Feindbilder. Im Zuge des Akzeptanz- und Etablierungsprozesses neuer, alternativer und zeitgenössischer Kultur ist auch inhaltlich »Normalisierung« und Routine eingetreten. »Autonome« Kulturstätten sind mit denselben Tücken, Problemen und Erfahrungen konfrontiert wie so manche altbekannten und etablierten Bereiche und Einrichtungen des Kulturlebens. Und sie können sich nicht mehr auf frühere Legitimationsformeln (Wir sind anders! Wir sprechen neue Gruppen an!) berufen, die noch aus der Zeit der Kulturbewegung stammen, da diese der Wirklichkeit von Organisationsstrukturen und Veranstaltungsprogrammen nicht standhalten. Schmerzlich müssen Akteure von Kultureinrichtungen Alterungsprozesse und Nach- wuchsprobleme zur Kenntnis nehmen und dass sie weniger von neuen Gruppen als von vertrauten, gemeinsam älter werdenden Gesichtern heimgesucht werden.

Der Bereich des »neuen kulturellen Sektors« ist – wie der anderer auch – durch Förderrituale und durch Routine geprägt. Nicht nur bei alteingesessen klassischen und traditionellen Kultur-einrichtungen, sondern auch bei in die Jahre gekommenen Stätten der »neuen Kultur« machen sich Routinegefühl, Orientierungs- und »Zielgruppenprobleme« breit. Unbehagen mit dem erfahrenen Wandel (Welches Publikum? Welches Programm? Welche Inhalte?) greift um sich. Aber gerade wenn der Sicherung von Offenheit und Entwicklungs- und Neuerungsfähigkeit von Einrichtungen keine ausreichende Aufmerksamkeit geschenkt wird, wenn eingefahrene Schienen und Routinen nicht überprüft werden oder Ziele und Ansprüche nicht kontinuierlich reflektiert und reformuliert werden, schlägt die Dynamik von Routine und Erstarrung zu. Gerade Einrichtungen, die ihre Tätigkeit nicht als »Traditionspflege« verstehen, müssen inhaltliche Reflexion und Orientierung an Neuem als Prinzip ihres Tuns verankern, um nicht zu abgeschotteten Soziotopen zu verkommen. Dazu zählt z. B. das Nachdenken darüber, für und mit welchen Gruppen (Männer? Frauen? Jugendliche? Ältere? MigrantInnen? usw.) kulturelle Aktivitäten gemacht werden.

Die Kulturszene hat ihre »Unschuld« verloren, da alte Formeln und Selbstverständnisse, die bisher als Legitimation für öffentliche Akzeptanz und Finanzierung, aber noch vielmehr zur Beschwichtigung eigener Zweifel dienten, nicht mehr stimmen und immer weniger greifen. Ihre Zukunftsfähigkeit wird nicht nur von öffentlichen Budgetlagen und kulturpolitischen Reiserouten abhängen, sondern mindestens ebenso von der Selbstüberprüfung und Reformulierung ihrer Selbstverständnisse, Ziele, Inhalte und Organisationsstrukturen.

Stell dir vor, es ist Kultur und keiner geht hin

Sowohl auf der Ebene von Kultur-initiativen und – einrichtungen als auch auf der Ebene der Kulturpolitik werden Schwierigkeiten sichtbar, Ansprüche und Ziele einer modernen und offenen Kunst und Kultur über traditionelle Zielgruppen und Angebote hinaus einzulösen. Dies betrifft im besonderen Aufgabenstellungen und Herausforderungen, die über gewohnte Ansätze von Kulturarbeit – Programm machen, Kunst produzieren und vermitteln – hinausgehen. Die Entwicklung von neuen Stätten und Angeboten seit den 80er Jahren hat das Kulturleben zwar erweitert und bereichert, womit parallel zum traditionellen Angebot an »Hochkultur« und »Tradition« ein neuer Sektor entstanden ist, der ein Milieu bedient und versorgt, das im Wesentlichen aus den neuen Bildungsmittelschichten besteht. Aber sowohl Kulturarbeit als auch Kulturpolitik kommen über die Altstadt und den »Kulturbezirk« nicht hinaus. Genau auf diese soziale und konzeptive Beschränkung des zeitgenössischen Kulturbetriebs hat der deutsche Sozialwissenschafter Alex Demirovic bei seinem Referat in der Galerie 5020 am 10. Juni (zuvor schon in diversen Aufsätzen) hingewiesen. Er stellte fest, dass von den Ergebnissen einer modernen Kulturpolitik, nämlich den neu entstandenen Stätten und Angeboten, bestimmte soziale Gruppen und Milieus praktisch ausgeschlossen sind. Diese Erfahrung kann auf Salzburg übertragen werden. Dem »gemeinsamen Boot« des Kulturlebens, bestehend aus FördergeberInnen und –nehmerInnen und spezifischen KonsumentInnengruppen, stehen Gruppen, Räume und Themen gegenüber, die kaum Bezugsfeld für Diskussionen und Aktivitäten sind. Dazu zählen, so Demirovic, sozial benachteiligte Gruppen der städtischen Peripherien, jugendliche Subkulturen, die in bewusster Distanz zum »Kulturbetrieb« stehen, und das »Migrationsmilieu«. Und dazu zählt beispielsweise jener Salzburger Raum, der weder von Kultureinrichtungen noch von der Kulturpolitik als Ort für Auseinandersetzungen und Aktivitäten gesucht wird, obwohl er im Verhältnis zum Stadtzentrum an Bedeutung gewinnt: die peripheren Stadtteile und Umlandgemeinden als gemeinsamer, von Einkaufs- zentren und Verkehrsflächen strukturierter Raum. Hier, wo sich im Gegensatz zur Tourismuszone der Altstadt, überwiegend Arbeit, Freizeit, Konsum und das häusliche Leben abspielen. Gerade in der Auseinandersetzung mit jenen Gruppen, die am klassischen, traditionellen oder zeitgenössisch orientierten Kulturleben nicht partizipieren (können), ihren kulturellen Formen, Bedürfnissen und Interessen, und in der Auseinandersetzung mit kulturellen Entwicklungen und Bedarfslagen eines neuen Stadtumfeldes, liegen zentrale Herausforderungen für »Kulturentwicklung«.

Anknüpfungspunkte dafür gibt es genug: Warum ist der Bezirk rund um den Salzburger Bahnhof (Elisabethvorstadt, Itzling) nur von einer jahrelangen Großbaustelle geprägt oder allein ein möglicher Standort für ein zweites »Cineplex« und nicht Anlass für die Schaffung von Orten für kulturelle Aktivitäten und Angebote von den und für die dort lebenden jugendlichen und älteren Bevölkerungsgruppen? Warum muss der Gürtel der peripheren Stadtteile und der Umlandgemeinden rund um das Stadtzentrum ausschließlich Ort für neue Stadien, Einkaufstempel und Stronach‘sche Märchenwelten sein? Gibt es zur musealen Verwaltung und tagestouristischen Nutzung der Salzburger Altstadt keine anderen Belebungsvorschläge als »Events« und sonstige konsumierbare Ereignisse? Besteht die Attraktivität eines apostrophierten »Kultur- und Medienstandortes« Salzburg nicht gerade in einer breiten, vernetzten und vielfältigen Szene an innovativer Kunst- und Medienproduktion? Kann die Kulturszene nicht eher Akzente für einen Kultur- und Medienstandort setzen als touristisch orientierte Event-Makers oder das Techno-Z?

Diese Fragen betreffen viele Akteure (aus Politik, Kultur, Wirtschaft) und bilden Schnittstellen für verschiedene Bereiche wie Kultur, Stadtentwicklung oder Sozialpolitik. Aber sie gehen im besonderen Maße auch die Kulturszene an. Dies erfordert einen Wandel von bisherigen Positionen, neue Konzepte und Arbeitsformen – im Gegensatz zum offensichtlichen Rückzug auf einen engen Kulturbegriff, in dessen Mittelpunkt Kunstproduktion und – vermittlung und »Programm machen« stehen. Dagegen hat ein Kulturbegriff, der Kultur als aktive Gestaltung von Lebensraum und – verhältnissen begreift, in diesem Treiben keinen Platz. In der Phase der Budgetein-sparungen haben derartige legitimationslose Experimente, die sich vielleicht noch dazu in Politik einmischen, wo es spannend, konfliktreich und, nach herkömmlichen Kategorien, nicht immer »erfolgreich« hergeht, keinen Platz. Man verlässt sich auf traditionelle Werte und Kategorien. Da es kaum Konzepte für »Anderes« gibt, gibt es auch kaum Zugänge zu anderen Themen und Gruppen. Obwohl das gesellschaftliche bzw. städtische Umfeld und dessen rasanter Wandel genügend Stoff für kulturelle und ästhetische »Interventionen« hergäbe, möchte man lieber in aller Ruhe gepflegte Programme mit überschaubaren Genres machen, ohne »fremde« soziale und politische Rasenflächen zu betreten. Weil es keine Kriterien und Konzepte für innovative Kulturarbeit gibt, beschränkt man sich auf Vertrautes. Und das wird fad. Dabei brauchen die Salzburger Kulturbiotope nur zuzugreifen. Die ganze Stadt liegt ihnen zu Füßen. Nicht vergessen: »No risk, no fun!«