juni-juli 2003

Doc Holliday
geschaut

Wider die Einschaltquotendiktatur

Zur Zeit gibt das Medium Fernsehen ein jämmerliches Bild ab. Das hängt nicht mit Empfangsstörungen zusammen, sondern mit den ideologischen und wirtschaftlichen Prioritäten der Senderbetreiber. Natürlich auch mit den vollen Hosen der Macher (besonders im öffentlich-rechtlichen Rundfunk) und der angeblichen Vorliebe des Publikums für banale und „leichte“ Kost. Gegen die Diktatur der Einschaltquoten existiert kaum Widerstand. Der Intellektualismus von ARTE (noch immer, wenn auch in geringerem Umfang als früher), die Dritten Programme der ARD mit ungewöhnlichen Spiel- und Dokumentarfilmen und vor allem die verschiedenen Sendungen der Produktionsfirma DCTP, die in Nischen der Privatsender RTL, SAT 1 und VOX beheimatet sind, bilden die ebenso löblichen wie raren Ausnahmen. DCTP, das steht für „Development Company for Television Program“, wurde 1987 vom gelernten Juristen Alexander Kluge gegründet. Der inzwischen 71-jährige Kluge trat aber nicht als Advokat, sondern als Schriftsteller („Chronik der Gefühle“), Kulturtheoretiker („Öffentlichkeit und Erfahrung“, zusammen mit Oskar Negt) und vor allem auch als Filmregisseur (gegen „Opas Kino“, Wegbereiter für den Neuen Deutschen Film der 60er und 70er Jahre mit programmatischen Arbeiten zwischen Dokumentar- und Spielfilm wie „In Gefahr und größter Not bringt der Mittelweg den Tod“, „Abschied von gestern“ oder „Der Kandidat“) in Erscheinung.

DCTP, an der auch die japanische Werbeagentur Dentsu und der Spiegel-Verlag beteiligt sind, besitzt eine eigene Sendelizenz, die inzwischen mehrfach verlängert wurde und völlige Unabhängigkeit und Unkündbarkeit garantiert.

Jeweils Freitag, Sonntag und Montag stehen die DCTP-Sendungen („Nachtclub“, „10 vor 11“, „News & Stories“, Prime Time – Spätausgabe und „Stunde der Filmemacher“) auf dem Programm. Von der gängigen TV-Kost unterscheiden sie sich durch ihre eigenwillige Ästhetik: Formale Hybride, die mit den üblichen Polit- und Kulturmagazinen nichts gemein haben, die verstärkt auf computergenerierte Schriftzeichen, auf eine assoziative Montage und den exzessiven Blue Box-Einsatz für „schräge“ Hintergründe setzen. Dazu eine breite Palette an (oftmals wiederkehrenden) Themen: Krieg, Oper, Techno, Dadaismus, Theater, Neuer Deutscher Film, Katastrophen, Philosophie, die Neue Frankfurter Schule usf. Immer mit überraschenden Inhalten und Verknüpfungen, die durch das umfangreiche Wissen Kluges und seine ungewöhnlichen Denkansätze hergestellt werden. Ähnlich außergewöhnlich verfährt der Autor Kluge in den Interviews. Mit sanfter, unverwechselbarer Stimme und unstillbarer Neugier entlockt er seinen GesprächspartnerInnen überraschende Antworten. Die 08/15-Ästhetik der Fernsehkanäle bricht Kluge auch gern mit Fake-Interviews: ein Genre, das die Grenzen zwischen Fiktion und Dokumentation – ohnehin ein Charakteristikum seiner unterschiedlichen Arbeiten – verschwimmen lässt.

Kluge gibt dem Experiment, dem Unerwarteten, Ungewöhnlichen und Provokanten eine Chance. Jenseits der üblichen Schnarch-Formate der Kultur- und Bewusstseinsindustrie entwickelt er unbeirrt seine spannenden Collagen und lehrreichen visuellen Essays. Nicht nur im ORF sucht man vergeblich nach solchen Programmen. Folgerichtig präsentierte der Salzburger Kunstverein im Sommer vergangenen Jahres mehrere Reihen mit typischen DCTP-Produktionen. Das Publikumsinteresse hielt sich leider in überschaubaren Grenzen. Sollte es sich hier gar um Fälle von Ignoranz und Borniertheit unter aufgeklärten Kunstfreunden handeln? Oder sollte der Weltgeist nur den Beweis erbringen, dass Kluge mit seiner Ästhetik wirklich zwischen allen Stühlen sitzt?