juni-juli 2003

Doc Holliday

„Schreib das auf, Kisch!“

Eine Erinnerung an den rasenden Reporter

1925 erscheint eine Reportagensammlung in Buchform mit dem Titel „Der rasende Reporter“, die schnell zum Bestseller avanciert. Der Autor heißt Egon Erwin Kisch. Er schreibt für unzählige Zeitungen und Zeitschriften, bereist die ganze Welt (Europa, Afrika, die Sowjetunion, die USA, China und Australien) und definiert mit seinen zu Papier gebrachten Eindrücken ein ganzes Genre: die Reportage. Kisch gilt als typischer Vertreter der „Neuen Sachlichkeit“, die auf die französischen Literaten Balzac und Zola zurückgeht und deren Programmatik er selbst so definierte: „Nichts ist verblüffender als die einfache Wahrheit, nichts ist exotischer als unsere Umwelt, nichts phantasievoller als die Sachlichkeit und nichts Sensationelleres gibt es in der Welt als die Zeit in der man lebt.“

In wahrhaft turbulenten Zeiten lebte der am 29. 4. 1885 in Prag geborene Kisch denn auch. Nach journalistischen Anfängen als Volontär bei verschiedenen Tageszeitungen, erregte er im Zusammenhang mit der Aufdeckung der Spionageaffäre um den k. u. k.-Oberst Redl im Jahr 1913 erstmals internationales Aufsehen. Von 1914 bis 1917 nahm er am 1. Weltkrieg teil: zuerst am österreichischen Feldzug gegen Serbien, später war er dem Kriegspressequartier in Wien zugeteilt. Die von ihm während des „großen Weltenbrandes“ gemachten Erfahrungen sollten Kisch entscheidend prägen. Aus dem loyalen Untertan bei Kriegsbeginn wurde – spätestens 1915, als ihn die Nachricht vom Tod seines Bruders Wolfgang ereilte – ein unnachgiebiger Kriegsgegner, der den Krieg und dessen Profiteure verurteilte. So nutzte er bereits seine Tätigkeit als Propagandist im Kriegspressequartier dazu, etliche Texte mit getarnt pazifistischer Tendenz zu verfassen. Die am eigenen Leib erfahrenen Kriegsgräuel brachten Kisch 1918 zu den „Arbeiter- und Soldatenräten“ in Wien. Beinahe hätten die „Roten Garden“ unter seiner Führung am 11. November 1918, dem Gründungstag der Republik, Kaiser Karl festgenommen. Kisch trat in der Folge der einzigen Partei bei, die (imperialistische) Kriege verurteilte, nämlich der kommunistischen. In den 20er Jahren übersiedelte der Reporter nach Berlin (und von der KPÖ in die KPD). In jenem Jahrzehnt schuf Kisch die stilbildenden Reportagen, die den Stellenwert dieser journalistischen – und dank der Texte des „rasenden Reporters“ – auch literarischen Gattung begründen sollten. Wurde wegen des herrschenden Antikommunismus nach 1945 Kisch in den westlichen Ländern kaum rezipiert, kam es in den 60er und 70er Jahren zu einer Renaissance der modernen Reportage. Dabei war in Kischs Büchern von Kommunismus nichts zu lesen – eine Tatsache, die heute auch von „bürgerlichen“ Literaturwissenschaftern nicht bestritten wird. Von seinen Reisen in die Sowjetunion gibt es vielmehr Zeugnisse, dass er die Heuchelei im Land heftig kritisierte. Für seine Reportagen verpflichtete Kisch sich zu einer Objektivität, die aber nicht Teilnahmslosigkeit bedeutete, sondern vielmehr die Entscheidung für das Menschliche. Parteilichkeit für radikalen Humanismus schätzen die Mächtigen nicht sonderlich. Das gilt auch und gerade in diesen Zeiten, da eine sich Journalismus nennende Kriegspropaganda ungeahnten Ausmaßes den dritten Irak-Krieg begleitete. „Embedded“ – also im Bett mit den Kriegshetzern – schimpft sich diese geistlose Umweltverschmutzung, die mit nur einem Satz charakterisiert werden kann: „Wie man sich bettet, so lügt man.“ Kisch, schau oba!

Am 31. 3. 1948 beendete er seine „Hetzjagd durch die Zeit“ im heimatlichen Prag. Die stalinistischen Parteisäuberungen der folgenden Jahre ersparte sich der die Nazizeit in Mexiko überlebende Kisch immerhin. Nach der tschechischen „Wende“ verschwanden ein nach ihm benanntes Café und der bronzene Kisch-Kopf aus dem Prager Stadtbild (Letzterer wurde inzwischen, finanziert mit Geldern vom „Spiegel“, erneuert).