juni-juli 2003

Doc Holliday
titel

Verfolgt – verbannt – vertrieben

Exil und Emigration als unfreiwillige Art des Reisens

Ein bekannter Sinnspruch lautet: Wenn einer eine Reise tut, so kann er was erzählen. Weil er (oder sie) ja dabei auch etwas erlebt. Wer daheim bleibt auch. Nämlich oft viel Schlimmeres. Bei Gefahr für Leib und Leben, aber auch in aussichtsloser wirtschaftlicher Lage tritt der leidende Mensch eine nicht ganz freiwillige Reise an, um dem Schlamassel zu entkommen. Das schert die wenigsten Menschen in den verhältnismäßig reichen EU-Ländern. Der Widerstand gegen die „Grenzsicherungsmaßnahmen“ hält sich in Grenzen, rassistische Stereotype „legitimieren“ die Asylpolitik der Blockwarte in der Festung Europa mit ihrer „modernen“ Variante der Selektion – euphemistisch auch Asylverfahren genannt. Dabei täten die meisten Entscheidungsträger in unserem Felix Austria gut daran, einfach an ihre ideologischen Vorfahren im letzten Jahrhundert zu denken, die in den finsteren Zeiten des Nationalsozialismus und Austrofaschismus selbst verfolgt wurden.

Die Vertreibung von ÖsterreicherInnen begann nicht erst im März 1938 mit der „Heimholung der Ostmark ins Deutsche Reich“, sondern im Februar 1934 mit der blutigen Niederschlagung des Arbeiteraufstandes gegen die Errichtung der austrofaschistischen Diktatur unter Bundeskanzler Engelbert Dollfuß und seiner „Vaterländischen Front“. Die Mitglieder des „Republikanischen Schutzbundes“ sowie die Funktionäre der Sozialistischen und Kommunistischen Partei versuchten sich der Verfolgung durch Flucht ins Ausland, besonders in die Tschechoslowakei, zu entziehen. Mit dem Einmarsch der Hitlertruppen begann sofort eine neue Qualität der Repression: die „Nürnberger Rassegesetze“ entrechteten mit einem Schlag etwa 225.000 ÖsterreicherInnen jüdischer Herkunft (das waren 3,5 Prozent der Bevölkerung). Bis zur hermetischen Abriegelung der Reichsgrenzen 1941 gelang 130.742, also zwei Dritteln davon, die Auswanderung. Die meisten fanden in Großbritannien oder den USA Aufnahme. Aber auch Palästina, Lateinamerika, Australien und Asien (besonders: Schanghai) dienten als Refugien. Die Nazis zerstörten ganze Wissenschaftszweige und intellektuelle Schulen: Sämtliche Nobelpreisträger, die damals an heimischen Universitäten lehrten, wurden zur Emigration gezwungen (und sollten nie mehr in die alte Heimat zurückkehren!). Aber nur eine Minderheit von materiell sehr gut abgesicherten und in den Exilländern begehrten Wissenschaftern (und einigen wenigen) Künstlern gelang dort der soziale Aufstieg. Die Mehrzahl der Emigranten litt bitterste Not.

Die NS-Repression richtete sich aber bekanntlich nicht nur gegen Juden, sondern gegen Marxisten, Anarchisten, Pazifisten, Liberale, gegen „Minderwertige“ wie Slawen, „Zigeuner“, „Behinderte“, Schwule, Monarchisten und „Asoziale“, selbst gegen Anhänger des austrofaschistischen Ständestaates. Viele „gingen ins Exil“ – wobei diese Formulierung freilich die Tatsache verschleiert, dass die Vertriebenen das Exil sich zumeist erst erkämpfen und erschleichen mussten. Glück und materielle Ressourcen bildeten die notwendigen Voraussetzungen, um das erwünschte oder erträumte Ziel zu erreichen. Aus den Lebensläufen vieler Vertriebener wissen wir, welch abenteuerliche Umstände die Flucht oftmals begleitete.

Die Grenzen zwischen Exil, also der Verbannung, die eine Rückkehr voraussetzt und als Provisorium „angelegt“ ist, und der Emigration, die als Auswanderung eher von dauerhaftem Charakter geprägt scheint, verwischen sich in der Realität. Die Emigration der Juden war immer Vertreibung (selbst wenn sie „vorsorglich“ und vorausschauend vor der „Machtübernahme“ erfolgte). Die politisch Verfolgten verstanden sich als Widerstandskämpfer, fühlten sich selten als Emigranten und kehrten dementsprechend nach der Niederlage der Nazis nach Österreich zurück. Einen besonders hohen Anteil unter den Remigranten stellten die Führungskader der KPÖ. Die ab dem Mai 1945 herrschenden politischen Kräfte bemühten sich keinesfalls die aus rassischen oder politischen Gründen (oftmals erfüllten Exilanten beide Kriterien) Vertriebenen zur Heimkehr aufzufordern. Mit Ausnahme des damaligen Wiener KPÖ-Kulturstadtrats Viktor Matejka akzeptierte das offizielle Österreich die „Flurbereinigung“: Entartete Kunst, jüdischer Kulturbolschewismus, Psychoanalyse und komische Wissenschaften – wos brauch ma des! Erst recht nicht, wenn die persönlichen Vorteile aus den Arisierungen auf dem Spiel stehen.