april-mai 2003

Georg Wimmer
titel

Generation zwischen den Stühlen

„Wie weit geht der Westen?“ – Diese Frage stellt die ARGEkultur im Rahmen ihres Programmschwerpunktes im Mai. Der »kunstfehler« hat sich umgehört, wie populär der Osten unter den jungen TürkInnen in Salzburg ist.

Kemal (17) wäre lieber in Badgastein geblieben. Mit 13 war er seinen Eltern dorthin gefolgt. Neue Sprache, neue Schule, neue Freunde, dennoch hatte er sich rasch zurecht gefunden. Weil die Eltern mit einigen befreundeten Familien nach Salzburg übersiedelten, macht Kemal seine Lehre als Kfz-Mechaniker jetzt hier fertig. Auch wenn’s nicht immer Spaß macht. Aber gelebt wird sowieso für Samstagnacht. Dann trifft sich Kemal mit Aken, Selo, Hüssein und den anderen aus seiner Clique im Internationalen Jugendzentrum in der Gabelsberger Straße, von dort geht es weiter in eines der Lokale im Cineplex, wo die Preise nicht gerade jugendfreundlich sind. Trotzdem kommt es vor, dass Kemal zuviel tankt. Am Morgen danach dann die Auseinandersetzung mit den Eltern. Konflikt der Generationen wie in jeder normalen Familie? Oder doch Zusammenstoß der Kulturen? Kemal schüttelt den Kopf. Er habe das schon irgendwie im Griff. „Man muss auch was gutmachen“, sagt er. „Heute trinkst du Alkohol, und morgen gehst du beten. Eyh, und in der Röcklbrunnstraße hamm wir jetzt voll die geile Moschee!“

Um etwas gut zu machen, aber auch um sich selbst etwas zu beweisen, hält Kemal jedes Jahr den Fastenmonat Ramadan ein. Ein Ritual, das das Gemeinschaftsgefühl stärkt, wie er erklärt. Und dann sagt er unvermittelt: „Auf die Dauer kann ich meine Tradition nicht immer aushalten.“ Kemal fallen solche Widersprüche gar nicht auf. Er muss sie ohnehin leben und versucht, den Ansprüchen seiner Familie zu genügen, während in seinem Hinterkopf mit jedem Tag die „österreichischen“ Ansprüche, die Erwartungen an ein Leben jenseits von Bosporus und Tradition wachsen.

So wie Kemal geht es vielen jungenTürken, die in Österreich oder Deutschland leben, wobei sich die Entwicklung im Nachbarland deutlicher abzeichnet. Denn dort begann das große Werben um die fleißigen Türken bereits 1962. Österreich zog erst gut zehn Jahre später nach und richtete bei den Arbeitsämtern in Istanbul und Ankara ebenfalls Anwerbestellen ein. Die erste Generation dieser „Gastarbeiter“ kam mit dem Vorsatz: „Wir arbeiten hier und gehen dann wieder zurück“.

Später dachten sie, wenn ihre Kinder ebenfalls hier arbeiten würden, könnten sie noch mehr Geld verdienen und ein umso besseres Leben in der Türkei haben. Also kam auch eine zweite Generation, Familien fanden wieder zusammen. Und nun sagten die Eltern: „Wenn unsere Kinder einmal erwachsen sind, dann gehen wir alle gemeinsam wieder zurück.“ Tatsächlich blieben gar nicht so wenige Familien in der Fremde, denn die Alten mussten plötzlich erkennen: „Meine Kinder sind hier, meine Enkel sind hier, was soll ich dann in der Türkei?“

In Stadt und Land Salzburg bildet die türkische Gemeinde mit derzeit 8.800 Mitgliedern die drittgrößte Gruppe von MigrantInnen nach der serbisch-montenegrinischen (10.000) und der bosnischen (13.800). Die TürkInnen haben sich allerdings mehr noch als die BosnierInnen oder die SerbInnen hierzulande die eigene Lebensart erhalten, inklusive ihrer den Männern vorbehaltenen Teehäuser und Geschäfte mit türkischem Hausrat und Lebensmitteln von den Oliven aufwärts. Auch politisch-religiös spiegelt sich an der Salzach das gesamte Spektrum der türkischen Gesellschaft wider. Es gibt islamische Vereine, die sich ihre Moscheen eingerichtet haben, ebenso wie eine christlich-alevitische Gemeinde. Man findet Linke und Rechte, Fans der extrem rechten Grauen Wölfe genauso wie die AnhängerInnen der Nachfolgeorganisation der kurdischen PKK, der KADEK, oder der gemäßigten GewerkschafterInnen vom DIDF. Größere Crashs zwischen diesen Gruppen waren in Salzburg noch nicht zu beobachten. Wohl ging beim türkischen Bäcker in Gnigl vor zwei Jahren eine Bombe hoch, doch war das Motiv krimineller Konkurrenzneid eines Branchenkollegen. Insgesamt, so der Eindruck der Exekutive, sei das politisch motivierte Gefahrenpotenzial aus der türkischen Gemeinde in Salzburg selbst in Zeiten wie diesen als eher gering einzustufen. In der Öffentlichkeit werden die TürkInnen ebenfalls nicht als Problem gesehen – sofern nicht eine Zeitung zum x-ten Mal die Story vom geschächteten Hammel im zweiten Stock aufkocht und vom Blut, das der darunter wohnenden, kreuzbraven Familie Österreicher in die Balkonblumen tropft, palavert.

Den offiziellen türkischen Stellen gibt die relative Abgeschottetheit ihrer Community dennoch zu denken. Stimmungen können kippen, und dem will der EU-Aspirant Türkei vorbeugen. Auf Initiative des Generalkonsulates werden nun landauf, landab österreichisch-türkische Freundschaftsvereine ins Leben gerufen. In St. Johann, wo wegen der Nähe zur Atomic-Skifabrik viele TürkInnen arbeiten, wurde bereits ein so genanntes „Miteinander-Fest“ organisiert. Ziel ist es, dass sich die Menschen kennen lernen, um Ängste abzubauen. Die TürkInnen sollen sich zwar integrieren, aber keineswegs ihre Identität aufgeben, sagt Erdal Özkan vom Dachverband der österreichisch-türkischen Freundschaftsvereine: „Wir arbeiten sehr hart daran, dass unsere Leute der zweiten und dritten Generation über ihre Traditionen bescheid wissen. Denn wer seine eigene Kultur nicht kennt, wird ein Gefangener der anderen Kultur.“ Die Sorge geht noch weiter. Immer öfter stellt sich heraus, dass türkische Kinder weder richtig türkisch noch richtig deutsch sprechen. Wer aber eine Sprache nicht beherrscht, wird erst recht nicht schreiben und lesen lernen. Viele TürkInnen bleiben in den „klassischen“ Berufsfeldern Bau, Industrie, Gastronomie und Reinigung hängen. Dieses Defizit soll nun behoben worden, indem vom Konsulat bezahlte TürkischlehrerInnen nach Österreich geholt werden.

Untersuchungen in Deutschland haben gezeigt, dass die Sprachdefizite bei den Jungen deutlich größer sind als bei den Mädchen. Zurückgeführt wird dies auch auf den Erziehungsstil. „Jungen werden oft wie Paschas behandelt. Wenn sie ein Glas Wasser wollen, müssen sie oft nur mit dem Finger darauf zeigen. Die Mütter reden selbst mit Fünfjährigen noch in der Babysprache“, zitierte kürzlich die Wochenzeitung „Die Zeit“ eine türkisch-deutsche Erzieherin. Die traditionelle Bevorzugung alles Männlichen setzt sich später fort.

Yeschim (22) ist in Salzburg geboren und schätzt ihre Eltern als „sehr tolerant“ ein. Die gelernte Restaurantfachfrau bildet sich in Abendkursen als Einzelhandelskauffrau weiter, moderiert auf der Radiofabrik die türkischsprachige Sendung „Radio Ses“ und entspricht in Nichts dem Klischee von der türkischen Frau mit Kopftuch, die ständig unter der Fuchtel der Familie steht. Trotzdem ist es nicht vorstellbar, dass Yeschim mit ihren Freundinnen abends alleine ausgeht. „Das könnten wir unseren Eltern nicht antun. Es wird einfach zuviel getratscht, und der Ruf der Familie wäre sofort ruiniert.“ Sie hofft, sagt Yeschim, dass ihre Kinder einmal mit weniger Einschränkungen aufwachsen. Das hänge aber auch davon ab, ob sich der Lebensstil an den der Österreicher annähere. Erfahrungen aus Deutschland nähren diese Hoffnung allerdings nicht. Im Gegenteil.

„Die Zeit“ konstatiert, dass eher eine Entfremdung zwischen Deutschen und Türken zu beobachten sei. Dass die Türken vermehrt türkische Fernsehsender einschalten, dass immer mehr ihre Ehepartner in der Türkei suchen, dass sie sich stärker dem Islam zuwenden würden – all das kennzeichne einen Rückzug aus Frust und Enttäuschung, der in den 90er Jahren eingesetzt habe. „Die jungen Türken messen sich, anders als ihre Eltern und Großeltern, mit gleichaltrigen Deutschen, sie fordern die gleichen Rechte und Chancen. Und der Vergleich fällt fast immer zu ihren Ungusten aus.“ Hinzu kommt, dass viele junge Türken nicht recht wissen, wofür sie sich entscheiden sollen.

„Ich werde das auch oft gefragt, aber mich interessiert diese Diskussion, ob Türke oder Österreicher ehrlich gesagt nicht“, meint Ümit (20), der in Hallein geboren und aufgewachsen ist. In seinem Fall hat das Schlagwort von der Integration, die sich über die Generationen hinweg vollzieht, vielleicht sogar seine Richtigkeit. Ümits Großvater spricht nach 30 Jahren in Österreich nur so viel deutsch, wie er am Arbeitsplatz braucht. Sein Vater spricht zwar deutsch, hat aber keine gesellschaftlichen Kontakte mit ÖsterreicherInnen, die über den Arbeitsplatz hinausgehen. Ümit hingegen hängt genauso gut mit TürkInnen ab wie mit ÖsterreicherInnen, vorzugsweise in der Zone 11, und eben wegen seiner Kontakte organisierte er für das Halleiner Jugendzentrum schon Diskussionsveranstaltungen, wo es um das leidige Thema Integration ging. Sprachprobleme hatte Ümit in der Schule nur mit Latein. Da freilich so große, dass er jetzt die Matura mit Verspätung nachholen muss.

Seine Eltern haben ihm eingepflanzt, dass die Türkei seine Heimat sei. Aber das stimmt natürlich nicht, erzählt Ümit. In Wahrheit ist die Türkei für ihn nicht mehr als Urlaubsland. Ganz sicher? Ganz sicher, schwört Ümit – um dann bei der Frage aller Fragen prompt umzufallen. „Zu wem ich beim Fußball halte? Zur Türkei natürlich! Beim Fußball bin ich ein astreiner Nationalist.“ Aber das ist ein Widerspruch, mit dem man in Österreich gut leben kann.

Das Aufenthaltsgesetz

Lange Zeit war der Zuzug nach Österreich nicht geregelt. Dies änderte sich mit dem Aufenthaltsgesetz, das 1996 unter Innenminister Franz Löschnak erlassen wurde. Seitdem darf eine jährliche festgelegte Quote an ImigrantInnen nicht überschritten werden. So dürfen sich im Jahr 2003 laut Quote exakt 8280 Personen aus Nicht-Eu-Ländern in Österreich niederlassen – 345 davon in Salzburg. Auch diese Quote ist vom Innenministerium noch einmal aufgeschlüsselt: In Salzburg sind 100 Plätze Fachkräften vorbehalten. Weitere fünf Plätze gibt es für selbstständig Erwerbstätige, die sich in Salzburg niederlassen möchten. 20 Plätze gehen an so genannte „Drittstaatenangehörige ohne Erwerbsabsicht“.

Und 220 Personen dürfen im Rahmen der Familienzusammenführung nach Salzburg kommen. Die Wartezeit für Familienzusammenführungen beträgt in Salzburg in der Regel drei Jahre. Viele MigrantInenn, die einst zum Arbeiten gekommen sind, bemühen sich nun gleich um die österreichische Staatsbürgerschaft. Voraussetzungen sind ausreichende Deutschkenntnisse, keine Vorstrafen von mehr als 3 Monaten sowie eine Aufenthaltsdauer in Österreich von mindestens zehn Jahren. Wer schneller eingebürgert werden will, muss schon sehr gut Fußball, Handball oder Eishockey spielen können.