februar-märz 2003

Brigitte Müller-Wieland

Literaturspur Salzburg–Berlin

Serie: Diagnose Salzburg

1980, als ich nach Salzburg kam, waren die Verhältnisse noch klar und übersichtlich: Da gab es die Leselampe mit ihrem monatlichen Programm, und einmal im Semester strömten wir in den Wallistrakt, wenn abzusehen war, daß die KHG (Katholische Hochschulgemeinde) die anstürmenden Massen nicht aufnehmen würde können. (Was bei Lesungen mit Christa Wolf z. B. der Fall war).

Fünfzehn Jahre und erfolgreiche Kämpfe später piesackte mich bisweilen abends die Qual der literarischen Wahl: Sollte ich ins Literaturhaus gehen? Oder in die ARGE? Oder doch ins TOI-Haus? Manchmal kapitulierte ich einfach vor dem Angebot und fand mich pizzaessend, weintrinkend und mit dem unguten Gefühl, etwas versäumt zu haben, im Sog oder im ARGE-Beisl wieder.

In Berlin hat sich dann alles geändert.

Alle zwei Wochen verfolge ich die Rubrik „Lesungen” im Stadtmagazin „Zitty“. Ich fahre mit dem Finger rauf und runter, und wenn der Finger müde ist, bin ich bei den Kontaktanzeigen und Wohnungsangeboten angekommen und schließe zufrieden das dicke Heft. Ich weiß dann, was im Literarischen Colloquium stattfinden wird, im Buchhändlerkeller und in der Literaturwerkstatt, in Juliettes Literatursalon, in der Versuchsstation für den Weltuntergang, in der Chaussee der Enthusiasten, im Diwan, in der Kiste, im Salon im Grünen, im Roten Salon, im Club der polnischen Versager, im Kaffee Burger, im Literaturhaus, im Brechtforum undundund.

Berlins Kinder haben ein eigenes Literaturhaus. Und im Frühsommer gibt es das Festival der internationalen Poesie und im Spätsommer das Internationale Literatur-Festival, und wie bei einem Wettlauf kann man den medialen Kampf der beiden Giganten um Sponsoren und Gelder aus dem Hauptstadtkulturfonds verfolgen.

Abends sitze ich vor meinem Computer.

Ich höre die Stimmen im Echoraum der Stadt, das Summen der vielen Bildschirme, in die Buchstaben gesetzt werden. Manchmal mischt sich in das Summen noch das Klappern von Schreibmaschinen oder sogar das Schriffeln von Füllfeder und Kugelschreiber. Es gibt über tausend registrierte Autorinnen und Autoren in Berlin, stündlich werden es mehr. Und um alle scharwenzeln die Zugehörigen des Literaturbetriebs, zu denen mittlerweile zig Agentinnen und Agenten gehören, und jeder Monat bringt neue Trends und Stars hervor.

Der Bezirk, in dem ich wohne, hat doppelt so viele EinwohnerInnen wie die Stadt Salzburg insgesamt. Berlin hat zwölf Bezirke. Manchmal bleibt mein Finger an einer Stelle hängen, und ich lasse mich hineinziehen in die Wörterwelt der No-Names, der jungen Talente oder jungen Latenten, der so genannten Popliteraten oder der ewig leuchtenden Fixsterne am Literaturhimmel. Manchmal fahre ich eineinhalb Stunden zu einer Lesung hin und eineinhalb Stunden wieder zurück. Man wird ruhig und gelassen. Man versäumt nichts in Berlin, weil man dauernd was versäumt.

„Wie geht’s der Österreich-Gruppe?”, fragte vor kurzem Karl-Markus Gauß am Telefon. Ich lachte achselzuckend.

Früher kannten wir uns alle. Mehr oder weniger. Es war übersichtlich.

Salzburg ist von Berlin aus betrachtet der Ort, an dem einmal im Jahr Festspiele stattfinden. Ich erkenne es an den leuchtenden Augen, wenn ich sage, woher ich ursprünglich gekommen bin. Die Festspiele! Und gleich danach: Die Natur!

Manchmal, wenn ich an Salzburg denke, fallen mir die gelben Herbstblätter des Baumes vor meinem Fenster in der Neutorstraße ein, und ich erinnere mich an das ganz besondere Licht im Oktober, November, das auf meinen Schreibtisch fiel.

Die Schriftstellerin Birgit Müller-Wieland war von 1991–93 Geschäftsführerin des Dachverbandes Salzburger Kulturstätten,

Vorstandsmitglied der ARGE 1993-96, lebt seit 1996 in Berlin.