dezember 2002 - jänner 2003

gelesen

Bücher

Kurt Kaindl

Die unbekannten Europäer

Otto Müller Verlag

Gibt es irgendwo einen Preis für „das europäischste Buch des Jahres“ zu gewinnen? Wenn ja, Kurt Kaindls Photoband „Die unbekannten Europäer“, für welchen Karl-Markus Gauß die erläuternden Texte verfasste, zählte zweifelsfrei zu den Favoriten. Schöner und nachhaltiger kann einem Europa kaum nahe gebracht werden als mit Kaindls Photoreise zu den unbekannten europäischen Volksgruppen, zu den Aromunen, Sepharden, Gottscheern, Arbereshe und Sorben.

Der Photoband ist sozusagen die europäische Erweiterung nach innen. Kaindl berichtet etwa von den im slowenisch-kroatischen Grenzgebiet lebenden deutschstämmigen Gottscheern, die bis heute einen Seitenzweig des Mittelhochdeutschen sprechen. Oder wer weiß, dass in Süditalien seit über 500 Jahren Albaner – die Arbereshe – leben und dass die Sepharden von Sarajevo bis heute Tradition und Sprache jener spanischen Juden pflegen, die 1492 von der Inquisition aus ihrer Heimat vertrieben wurden?

Kaindls Bilder sind offen und direkt, sie gehen auf die Menschen zu, ohne je die Schamgrenze zu überschreiten. In den Gesichter lassen sich Geschichten lesen, aus den Landschaftsdetails entstehen im Kopf umfassende Panoramabilder. Von der Intensität der Photos kann man sich übrigens auch im Museum Carolino Augusteum überzeugen, wo „Die unbekannten Europäer“ noch bis 6. Jänner zu sehen sind.

Thomas Neuhold

Max Goldt

Wenn man einen weißen Anzug anhat

Reinbek b. Hamburg 2002, Rowohlt

Das zwölfte Buch des Titanic-Kolumnisten und ehemaligen Foyer des Arts-Musikers Max Goldt ist das erste beim renommierten Rowohlt-Verlag. Als „Tagebuch-Buch“ angekündigt, handelt es sich doch im Endeffekt um die üblichen kurzen lakonischen Geschichten – notiert von Anfang September 2001 bis Ende Jänner 2002. Aber der formale Rahmen scheint unwichtig. Noch immer kommentiert Goldt sein ganz persönliches Tagesgeschehen mit der ihm eigenen Ironie. Goldtsche Sprachkritik („Was man nicht sagt“, „Was man durchaus ab und zu sagen kann“) und Benimmregeln ziehen sich (meist) unaufdringlich durch die wohl formulierten Abhandlungen: über die Wohnungsnachbarn (Zuhälter und Kampfhundbesitzer), den Umzug des Autors, seine Ode an die „unglaublich schnellen“ und „erfreulich wenig grantigen“ Möbelpacker, dem Lob der Elektriker – die zum Aufhängen von elf Lampen fünf Stunden benötigen usf. Natürlich fehlt auch der 11. September 2001, jener „ereignisverzerrte Tag“, an dem islamistische Kamikazeflieger die Zwillingstürme des WTC einstürzen ließen, nicht: Am Tag danach gilt Goldts Mitgefühl auch „jenen eitlen Kommentarwichsmaschinen des öffentlichen Lebens, die gestern vergeblich den ganzen Abend neben dem Telephon standen“, also den medialen Wichtigtuern, die gerne jeden Lercherlschas erklären, um eine Stellungnahme zum Anschlag, der die Welt veränderte, aber nicht gebeten wurden. Sehr komisch kommen die Bemerkungen zu Österreich: Ein seltsames Land, wo ein Mann während einer Goldt-Lesung auf einer Kärntner Almhütte in der ersten Reihe im Sitzen und in hohem Bogen uriniert. Kampftrinken mit Trash-Rock-König Ronnie Urini, der nachts zwei Sonnenbrillen übereinander trägt, und unsere Heimat als Ursprung einer „amateurpornographischen Massenbewegung“. Das sollten Sie aber besser selbst lesen!

Doc Holliday

Gerhard Pilgram, Gerhard Maurer

verschütt gehen

wandern und einkehren rund um den DOBRATSCH

Drava Verlag, 2002

Was sucht ein Wanderführer um einen Villacher Hausberg in einer Salzburger Kulturzeitschrift?

Es gibt genügend Gründe. Da wär’ einmal, dass Autor Gerhard Pilgram einer jener Kärntner Kulturschaffenden ist, die trotz des freiheitlichen Bannstrahls aus der Riege um Haider und Mölzer lebendiger und kreativer agieren als je zuvor.

Dann gibt es noch einen Grund: Die beiden Wanderführer „Kärnten unten durch“ (1998) und „verschütt gehen“ sind weit und breit das Beste, was dieses Genre derzeit zu bieten hat. Kaum anderswo werden Natur- und Siedlungsräume, Biotope und Kulturdenkmäler, historische Schauplätze, Zeugnisse der Industriegeschichte und Schöpfungen der Kunst und Alltagskultur mit soviel Akribie und Liebe beschrieben. Bei seinen Wanderungen „liest“ Gerhard Pilgram in der Landschaft. Wer selbst nicht wandern mag, kann diese Führer ruhig auch als „Lesebücher“ verwenden – sie werden ihm die Augen öffnen und Lust auf Unentdecktes im eigenen Umfeld wecken.

„Kärnten zu mögen wird einem nicht leicht gemacht“, schreibt Pilgram in seinem Vorwort. An seine Wertschätzung gegenüber diesem Land reichen alle Freiheitlichen und Heimattümler zusammen nicht heran.

Gerald Gröchenig