dezember 2002 - jänner 2003

Wiglaf Droste

Ich schulde einem Lokführer eine Geburt

Eine dringende Herzensangelegenheit brachte mich in die etwas missliche Lage, in Bielefeld die Regionalbahn nach Altenbeken nehmen zu müssen, denn dort, in Altenbeken, wartete der Anschlusszug, der mich zu meinem Ziel bringen sollte. Die Regionalbahn indes verließ Bielefeld mit so großer Verspätung, dass der weitergehende Zug nicht würde erreicht werden können. Verzweiflung beschlich mich. Ich würde eine weitere Sehnsuchtschicht schieben müssen, und das in Altenbeken. Ich sah mich ausharren in Altenbeken, mit langem, gedehntem e: Altenbeeken. Es klang fast wie Altenhundem. Das es in der wirklichen Wirklichkeit genauso gibt wie Altenbeken: Altenhundem. Das liegt da, wo die alten Hundem verfroren sind, wenn nicht sogar die altem Hundem. Beziehungsweise eben die alten Beeken. Mir brach der Schweiß aus.

Ich hoffte auf den Schaffner, um ihn zu fragen, wie die Chancen stünden, die in Bielefeld vertrödelte Zeit aufzuholen. Niemand kam vorbei. So machte ich mich auf die Suche und wanderte zur Spitze des Zuges. Die wenigen Passagiere schliefen oder tranken Dosenbier, und schon nach zwei Waggons stand ich vor der Kabine des Lokführers. Es handelte sich um einen seriös melierten Herrn von schätzungsweise Mitte 50, dessen ernste Züge von Freundlichkeit aufgehellt wurden, als er zu mir herübersah. Ob wir Altenbeken vielleicht doch pünktlich erreichen könnten, fragte ich; sehr dringend müsse ich dort den Anschluss-Interregio erwischen. Er schüttelte den Kopf. Nein, leider nicht, bedauerte er, ich müsse wohl oder übel zwei Stunden auf die nächste Verbindung warten. Sein Bescheid traf mich voll. Und plötzlich, ohne die geringste vorhergehende Überlegung, hörte ich meine Stimme sagen: „Es ist wirklich wichtig. Meine Frau liegt in den Wehen!“

Ich sagte das mit sonorer Stimme, dem Thema angemessen leicht gepresst. Es klang unglaublich echt, ich war selber beeindruckt. Dabei bin ich weder verheiratet, noch war ein Kind unterwegs. Aber für den Lokführer, der mir glaubte, lagen die Dinge anders. Er sah mich mit großem Ernst an und schwieg. Etwas sehr Altes und Mächtiges war zwischen uns getreten, nackt und keinen Aufschub duldend: Mann-Frau-Kind, Keimzelle, Familie, Brut, das Überleben der Population. Wir waren zwei Männer, schicksalhaft verwoben, er konnte mein Los lindern, wenn er tat, was zu tun war, und er tat es ohne Zögern. Er nickte, noch immer schweigend, und ich bin sicher, dass er vor seinem geistigen Auge sah, was auch ich sah: eine Frau zwischen Laken, das Gesicht schweißbedeckt, eine Hebamme, einen Arzt, der eimerweise schwarzen Kaffee trank, um wach und wieder nüchtern zu werden, und eine Stimme rief: „Bringt heißes Wasser und frische Tücher!“

„Ich kümmere mich“, sagte der Lokführer in großer, schöner Einfachheit. Ich dankte ihm so ernsthaft, dass ich die geflunkerten Wehen beinahe selbst zu spüren glaubte. In Altenbeken wartete tatsächlich der Interregio. Auf Gleis 22. Wer hätte gedacht, dass Altenbeken 22 Bahngleise hat? Es hat sogar 32, wenn ich richtig gesehen habe beim Rennen zum Zug. Im Bistrowagen trank ich in Ermangelung einer Alternative einen Cabernet Sauvignon aus der argentinischen Bodega Vollmer, den ich normalerweise verschmähe, weil er so schmeckt, wie ich mir einen Kuss der Bielefelder Sauerfrau Antje Vollmer vorstelle. An diesem Abend schmeckte er köstlich. Glück bestach meinen Gaumen, und Dankbarkeit: über die eigene geradezu katholische Lügefähigkeit, und mehr noch über die freundliche, selbstverständliche Entschlossenheit eines westfälischen Regionalbahnlokführers – dem ich nun, da gibt es kein Vertun, eine Geburt schuldig bin, mit allen Schikanen, mit heißem Wasser und frischen Tüchern.