dezember 2002 - jänner 2003

Doc Holliday
grausame orte

Sturzkampftrinker und Lufthoheit

„Wenn ich nichts trink, tut mir das Denken oft direkt weh, besonders über so weltpolitische Probleme“ (Ödön von Horvath)

Stammtische genießen unter fortschrittlichen Menschen keinen besonders guten Ruf. Stehen sie doch üblicherweise unter dem Verdacht, dem rechten Bodensatz eine fruchtbare Heimat zu bieten. Freilich ist das nur die halbe Wahrheit, denn auch emanzipatorische Kräfte geben sich dem Konsum berauschender Getränke hin und nutzen Wirtshäuser als Versammlungsorte und Diskussionsstätten.

In dieser Tradition steht auch der mythenumrankte „Einsertisch“ im ARGE-Beisl. Wie es sich für die echte Beisl-Aristokratie gehört, befindet sich der Tisch in unmittelbarer Nähe zum Abort. Strategisch also günstig gelegen, falls einer der Stammgäste einmal überflüssiges Wasser abschlagen muss. Freilich kann vom „Einsertisch“ aus auch jede Unpässlichkeit des gemeinen Beislfußvolks genau studiert werden – notfalls heißt es ausweichen oder in Deckung gehen. Das Studium der menschlichen oder nur humanoiden Befindlichkeiten scheint neben dem Räsonnieren und Hadern ein Hobby der Stammtischrunde zu sein. Dessen Protagonisten beschäftigen sich in den wenigen Stunden, die sie nicht am „Einsertisch“ verbringen, mit Berufen, die Kreativität und Geschmackssicherheit verlangen. Was sonst könnte Werbegrafiker, Werbetexter, Schankwirt, Koch, Schauspieler, Kabarettist, Kellner, Journalist oder freigeistigen Bohemien miteinander verbinden? Ach ja, Schnäpse kippt man besser in größerer Runde. So bleibt es wenigstens nie bei nur einem Hochprozentigen. Einseitigkeit ist am „Einsertisch“ schließlich nur in ideologischen Fragen erlaubt – und der Antialkoholismus hat in diesem Land, erst recht in dieser Stadt, etwas Sinnloses.

Gut möglich, dass die Bierberufe der Stammtischbrüder (die Schwestern bleiben zumeist in der Minderheit) auch ein exzessives Proben zur Beibehaltung des aufrechten Ganges nötig machen. Den trainiert man am besten unter verschärften Bedingungen. Man trinkt (zumindest anfänglich) in vollem Bewusstsein der Folgeerscheinungen bis zur Bewusstseinstrübung. Keinesfalls bleibt solch narkotisches Tschechern ohne Konsequenzen: Zu fortgeschrittener Stunde übernimmt endgültig Bohemia die semantische Lufthoheit über dem „Einsertisch“ – und zwar unabhängig davon, ob Edelbohemien B. zugegen ist oder nicht – , denn die kühn herausgespuckten Wörter in den hitzigen Disputen sind für die Zuhörer meist nur mehr böhmische Dörfer.