oktober-november 2002

gelesen

Bücher

MiDiHy & MVD (Hrsg.)

SELFWARE. file 01

»SELFWARE. Politics Of Identity« nennt sich ein mehrteiliges Projekt im Rahmen von »Graz 2003 – Kulturhauptstadt Europas«. Mit »SELFWARE.file 01« ist nun das erste von zwei äußerst diskursiv angelegten Programm-Magazinen zum Themenkomplex »identitätspolitische Gegenentwürfe« erschienen. Dabei geht es nicht nur um die (subversive) „Rolle von Mode und Design für die Konstruktion und Vermittlung von Identitäten“ (also um diverse Pop/Cultural Studies-Theorien) sondern auch um die realen Auswirkungen einer zunehmenden „Kulturalisierung von Alltagspraktiken“, d. h. der (neoliberalen) Sicht von „Kultur als Ursache aller Erscheinungen des Sozialen und Politischen“ (Reinhard Braun). So etwa in Mark Terkessidis' Aufsatz über „Lifestyle/Identitäts-Polizei“, „racial profiling“ und „ghetto awareness wear“. Womit nichts anderes als eine (mitunter tödlichen Waffengebrauch legitimierende) „kausale Verknüpfung zwischen Markenkleidungen, Kopfbedeckungen, Schuhen usw. und dem Verdacht auf kriminelle Handlungen“ in den USA (aber auch bei uns) gemeint ist. Demgegenüber versucht „SELFWARE“ erneut Unterschiede und Differenzen zwischen „dem Kulturellen und dem Politischen“ als Dispositive sichtbar und somit diskursiv zu machen. Was mit diesem ersten Reader auch hirnschmalzanregend funktioniert.

Tipp: SELFWARE. Politics Of Identity, Graz, 30.02.2003 – 26.6.2003, www.midihy.org, www.mdv.org, www.selfware.at

Didi Neidhart

Joseph von Westphalen

Der Liebessalat

München 2002, btb

Der jüngste Roman des in München lebenden Schriftstellers, Journalisten und Jazz-DJs Joseph von Westphalen handelt überraschenderweise von der Liebe. Nicht von DER einzigen und hehren Liebe, sondern von der Liebe zu den Frauen im Allgemeinen. Der Protagonist Viktor Goldmann, wie Westphalen Schriftsteller und nicht nur deshalb leicht als Alter Ego des Autors zu erkennen, braucht seine Affären, um überhaupt existieren und Stoff für seine Romane finden zu können. Zugleich benötigt er aber auch „die Ehe als Institution, die den Wert der Liebschaften bewahrt“ und „verhinderte, dass die Liebschaften inflationär und damit entwertet wurden.“

Wer Träger eines großen Herzens ist, in dem bisweilen mehrere Menschen Platz finden, erfreut sich an den Zuständen vor dem Verliebtsein: die knisternde Spannung beim Flirt, die Bereicherung unbekannte Frauen zu treffen, die Magie flüchtiger Berührungen. Die amourösen Abenteuer führen Viktor aber in existentielle Nöte. Die unerreichbare Penelope, die ihm ihre Gefühle vorenthält, stürzt Viktor in eine berufliche und private Krise. Sollte die Angehimmelte etwa gar die eine ganz große Liebe sein, deren Existenz der Freigeist Viktor immer angezweifelt und abgelehnt hatte? Keine Sorge: Westphalen führt seinen Protagonisten als selbstmitleidigen Jammerer vor, um ihn doch noch zu läutern. Neben all diesen großen Gefühlen, Leiden(schaften) und Begierden, serviert Westphalen dem Leser bissige Bemerkungen zum Zustand unserer Gesellschaft: zu Rechtsextremismus, Modediktat oder Körperkult. „Es lebe der unperfekte Mensch“, heißt es da, den modernen Rassehygienikern schleudert der Autor ein „Tod allen Genforschern!“ entgegen.

Keine Gebrauchsanweisung für Seitensprünge, auch kein Plädoyer für die Monogamie, aber ein spannender psychologischer Roman über die Liebe in all ihren Facetten.

Doc Holliday

Robert Jelinek,

Christoph Steinegger (Hrsg.)

Sabotage: Torments & Vices (Buch & Mini-CD)

Die Gestalten Verlag, Berlin 2002

Das Medien Mysterien Theater

Edition Selene, Wien 2002

Das widerspenstige Wiener (nicht nur) Musik-Label »Sabotage Communications«, vom Aktions/Situations-Künstler Robert Jelinek vor zehn Jahren ins Leben gerufen, feiert sich stilecht mit gleich zwei Büchern, die erstmals alle umfangreichen Aktivitäten des international agierenden Labels dokumentieren und sinnesverwandte Projekte auf jeweils mehr als 200 Seiten veranschaulichen. Bei »Torments & Vices« reicht die Palette von Schallplatten-Asphaltierungen (»Death Of Sabotage Rec.«) über Aktionen/Interventionen an öffentlichen Orten wie Telefonzellen (mit »Do Not Disturb«-Schild versehen), U-Bahnen (»Reserved«-Schilder auf Sitzen), Banken, (»For Robbery Use Only!«-Parkplätze) bis hin zu legendären Duftprojekten (»CASH - Der Duft des Geldes«, »ASYL – Der Duft der bleibt auch wenn Sie gehen«) und aktuellen Projekten wie »THE BEAST« (das „lauteste Auto Europas“) und »70.000 Cannabis für Kassel« (documenta XI, 2002).

»Das Medien Mysterien Theater« (abgeleitet von Hermann Nitschs Arbeits/Pressebuch »Das Orgien Mysterien Theater«) dokumentiert zusätzlich erstmals die medialen Kunst/Medienguerilla-Aktivitäten und versammelt Reviews, Kritiken und Fake-Kampagnen (u. a. auch mit »kunstfehler«-Beiträgen). Zugreifen!!!

www.sabotage.at

Didi Neidhart