september 2002

Wiglaf Droste

Göbeln im Angesicht wessen?

„Du bist durch den Osten gefahren, du sagst, es war teilweise schön, du bist durch den Osten gefahren, und du hast Störche gesehn“, singt Funny van Dannen – der tatsächlich endlich wieder öffentlich singen wird. Alle, die den angeblich zwecklosen Versuch nicht aufgeben, Sehnsucht, Poesie, Lebensleichtigkeit, Schwermut, Liebe, Lästergelächter, Glückssuche und Wahrhaftigkeit, kurzum DAS LEBEN unter ihren einen Hut zu bringen, jubilieren schon jetzt. Denn Herr van Dannen singt so schmelzend schön wie wahr. Störche kucken im Osten geht wirklich gut – und gibt einem dennoch dieses Gefühl von: Ja, sicher, einerseits. Das Dörfchen Molkenberg, 18 Kilometer von der brandenburgisch-havelländischen Kleinstadt Rathenow abliegend, ist im Sommer geradezu überbelegt mit Störchen. Gut zehn Storchpärchen mit je zweibisdrei Jungstörchen haben sich hier niedergelassen; sogar die Backsteinkirche bietet, was sie keinem Ausländer böte: ordentlich Asyl. Das rote Dach haben die Störche zum Dank fäkal eingeweißt und hocken ungeniert auf ihrem Horst. Horst – bei diesem Wort meldet sich flugs der Achtjährigenhumor: „Wohin fliegt ein schwuler Storch? – Zu seinem Horst.“

Die Begeisterung für Störche ist dennoch zweischneidig. Das große Geklappere ist kritikauslöschend anrührend, die flaumig-struppigen Kleinen sehen sowas von kindersüß aus, und ihre tapsig taumeligen Flugversuche sind schlicht hach ...

Aber, und das wollen wir nicht vergessen: Sie fressen unsere guten Freunde, die freundlichen Frösche! Störche sind die Franzosen des Tierreichs: finstere Froschfresser allesamt. Und deshalb darf man ihnen bei aller Bewegtheit stets getrost ein ernsthaftes »Froschmörder!« zurufen.

Ich bitte hier speziell die großartige Froschzeichnerin Anna Zimmermann um Maßnahmen: abschreckende Transparente malen und in ganz Brandenburg an die Masten und Schornsteine hängen. Warum sollen nur Menschen ihre Ernährung umstellen?

Den humanoiden Bewohnern Brandenburgs wäre das so wumpe wie alles. Der Brandenburger ist, verglichen mit der Landschaft, in der er lebt, ein Haufen Wurstsalat. Angestachelt von seinem einzigen Talent und Wunsch, allen anderen das Leben zur Hölle machen zu können, nimmt der Brandenburger gern in Kauf, dass er sich selbst nichts Besseres bereitet. Das nennt man preußisch-protestantische Konsequenz. Mannshoch umbrettert, umzäunt und ummauert der Brandenburger seine Wohnparzellen und nagelt ein schäferhundgebissgeschmücktes Schild an die panisch hochgerissene Zugbrücke: „Hier wache ich!“, „Vorsicht, gefährlicher Hund“, oder, ganz besonders abgefeimt: „ICH brauche fünf Sekunden zur Tür – und DU?“ Was allerdings um so gagaistischer ist, weil die angeblich umherschlawinernden rumänischen Hütchenspielerbanden, vor denen der Brandenburger sich zwanghaft schützen muss, das ja nicht lesen können, nicht einmal, wenn es sie gäbe.

So sieht Brandenburg in großen Teilen aus wie ein Stasi-Essensrest.

Aus der Abteilung Horch und Guck wurde die Abteilung Storch und Schluck respektive Gluck, oft im Aggregatzustand eines älteren, wurzel- bis würfelförmigen Mannes auftretend, der, gut versteckt hinter Mauer, Zaun und Hecke, in Unterwäsche den Rasen mäht.

Die Brandenburger Alleebäume, um die sich der Brandenburger Nachwuchs – vielleicht sogar in einer Ahnung seiner eigenen Trostlosigkeit? – jedes Wochenende in nicht unbeträchtlicher Zahl final herumwickelt, sind besonders scheußlich geschmückt: Neongrüne Plakate werben für eine »Männerverwöhn-Party – 1 Liter Mix 6 * – Oben ohne-Bedienung«! Adäquat lockt in Rathenow eine Brutzelhucke namens »Gitti's Verwöhn-Imbiß«. Ob Gitti ihr ganz persönliches Apostroph an einem Kettchen um den Hals trägt, vergoldet, von ihrem Verlobten gekauft für neunneunundneunzig, bei Tschibo? Wir wissen es nicht, und manchmal ist Nichtwissen Glück.

Von Rathenow kann man die Strecke nach Berlin abkürzen, über kleine Straßen durch das Havelländer Luch – eine Agrarlandschaft, grün und saftig wie die LPG Paul Popel. Um dem Achtjährigenhumor richtig Feuer zu geben, gibt es am Weg ein Dörfchen mit dem Namen Kotzen, wirklich und ungeflunkert Kotzen. Dass dort gehalten wird, ist Achtjährigenehrensache – hier und nur hier wird gepicknickt, on va faire le pique-nique, wie der Franzose sagt, denn ein Ausflug ohne Picknick ist kein Ausflug.

Einladend ist der verlassene Kirchhof. Zum Smaragdschlangengrün des Rasens gesellt sich das Leuchtendblau der weichwuschigen Picknickdecke.

Alles scheint genau so federleicht, wie das Leben bitte sein soll; allein die gebutterten Sandwiches mit gebratenem kleinem Schwein, Rotweinschalotten und geknoblauchter Spezialremoulade scheinen auf einmal so schwer – und so kommt es, heißbrühig, ruckartig und unabwendbar zu einem akustischen Auswurf einiger dazu besonders geeigneter Männervornamen: Kurt, Ulf, Ralf – und was ich noch so intonierte auf dem Kirchhof, beim Wegbrechen dessen, was Ostdeutsche „meine Identität“ nennen.

Des schweren Delikts der Gotteslästerung, das kann ich so aufrichtig beschwören wie einst Uwe Barschel schwur, machte ich mich dennoch nicht schuldig. Denn Gott war nicht anwesend beim Göbeln in Kotzen. Ich weiß es, ich habe nachgesehen, demütig knieend, unter jedem Gebüsch.