märz 2002

Alfred Noll
leitartikel

Das Soziale als Thema

Irgendwo hat Max Weber einmal geschrieben, dass die »Caritas« dem Kapitalismus nicht adäquat sei. Die durch unser Wirtschaftssystem strukturell verursachten sozialen Problemlagen können nicht durch individuelle Hilfe beseitigt werden. Unfall-, Pensions- und Arbeitslosenversicherung etwa sind deshalb auch nicht als »Geschenke« an »Bedürftige« zu werten, sondern sie sind die systematische Antwort auf eine Fehlkonstruktion. Wer über den Sozialstaat spricht, muss von der Konstruktion unserer Gesellschaft reden.

Mit einem Sozialstaats-Volksbegehren kann man diese Fehlkonstruktion natürlich nicht beseitigen. Wir müssten schon kollektiv ein ganz anderes System des Wirtschaftens, des Umgangs mit Mensch und Natur fordern und durchsetzen, um hier wirklich etwas zu ändern. Es sieht nicht so aus, dass hier in absehbarer Zeit etwas bewegt werden könnte. Und dennoch sollte nichts unversucht bleiben, was in die richtige Richtung geht. Wir sind gut beraten, das Sozialstaats-Volksbegehren nicht als der Weisheit letzter Schluss auszugeben. Es ist nicht mehr als der zeit- und problemgebundene Versuch, der allgemeinen Entwicklungstendenz einen praktikablen Vorschlag entgegenzusetzen. »Das Soziale« muss auch in einer Zeit neoliberaler Schwätzerei und dem nach »Leistung« kreischenden Gebrüll als gesamtgesellschaftliches Thema neu verankert werden. Die zahlreichen Unwägbarkeiten des auf Marktverwertung ausgerichteten Lebens und deren finanzielle, psychischen und kulturellen Folgen (in Beruf und Freizeit) dürfen nicht als je individuelles Versagen im allgemeinen Bewusstsein abgebildet werden. Die vom Volksbegehren geforderte verfassungsrechtliche Verankerung des Sozialstaats ist daher in erster Linie eine Art »institutionelle Erinnerung«. Sie wäre – wenn es denn je dazu kommt – ein permanentes Postulat, soziale Verantwortung wahrzunehmen. Nicht mehr – aber auch nicht weniger.

Natürlich ist das anvisierte (rechtspolitische) Ziel wichtig. Es geht aber auch um »Themenführerschaft« und Hegemonie. Während die einen von Nulldefizit, Risikobereitschaft und Standortoptimierung, müssen wir von den gesellschaftlichen und individuellen Kosten reden, die unentwegt verursacht werden. Das „Elend der Welt“ (Bourdieu) kommt nicht von alleine, es ist verursacht. Es gibt Mittel dagegen. Und wer vom Finanzierungsbedarf des Sozialstaates spricht, der redet nicht über Naturgesetzlichkeiten, sondern über politische Interessen. Das Sozialstaats-Volksbegehren erfüllt seinen Zweck, wenn es bis April 2002 und darüberhinaus den erforderlichen Anstoss gibt, darüber aufzuklären.

Alfred J. Noll ist Rechtsanwalt in Wien und

Universitätsdozent für Öffentliches Recht und Rechtslehre