märz 2002

Renate Böhm
titel

Von 3. bis 10. April – Schluss mit der Schlamperei: Auch der Sozialstaat braucht ein Sicherheitsnetz

Von 3. bis 10. April können die ÖsterreicherInnen an ihre Bundesregierung das Begehren richten, den Sozialstaat in der altehrwürdigen österreichischen Bundesverfassung zu verankern. Der Text des Volksbegehrens ist ein dichter 15-Zeiler: Durch die Befolgung von drei Grundsätzen sollen soziale Sicherheit und Chancengleichheit zu zentralen Zielen politischen Handelns werden. Erstens soll jeder gesetzgeberische Akt und sein Vollzug einer Sozialverträglichkeitsprüfung unterzogen werden. Zweitens soll die Absicherung sozialer Risken durch öffentlich-rechtliche solidarische Sicherungssysteme in den Verfassungsrang erhoben werden. Drittens soll ihre Finanzierung durch Beitragszahlungen erfolgen, deren Angemessenheit sich an der sozialen Lage und der wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit jedes Einzelnen zu orientieren hat.

Das bedeutet: Stünde dieser Text in der Verfassung, hätten die ProtagonistInnen des Neoliberalismus gewisse Probleme, weil sie bei der Realisierung seiner Grundsätze stets den Verfassungsbruch riskieren müssten. Der Finanzminister würde sich beschmutzen, wenn er, wie er das heute tut, den Sozialstaat „Anspruchsstaat“ nennt und jene unsolidarischen Verhaltens beschuldigt, die solidarische Leistungen in Anspruch nehmen. Den GesetzgeberInnen bzw. der Regierung wiederum würden die Verfassungsrichter ständig auf die Finger klopfen müssen, wenn sie das machen, was sie derzeit tun und was sie für die Zukunft noch angekündigt haben. Eigentlich wäre das schön.

Die Funktion des Volksbegehrens »Sozialstaat Österreich« liegt vorerst aber eher im Vorfeld dessen, was wirklich schön wäre.

Zuerst einmal vereint es, rein inhaltlich betrachtet, alle, die seit mehr als einem Jahrzehnt erfolglos auf die zunehmende Brüchigkeit sozialer Netze aufmerksam machen. Es spricht alle an, die seit zwei Jahren von den besonderen Belastungen der schwarz-blauen Regierung betroffen sind. Weil es sehr konstruktiv formuliert ist, gibt es vielen, die auch nur diffuser sozialer Gesinnung sind, die Möglichkeit einer guten Tat. Es ist ein hygienischer Akt wider die Paralyse angesichts des stattfindenden und noch geplanten Sozialabbaus der Regierung.

Darüberhinaus ist es ein origineller Ansatz wider die Schlamperei in Österreich.

Die ProponentInnen des Volksbegehrens gehen von der Diagnose aus, dass der Sozialstaat verschlampt worden ist. Das ist richtig. Die Schlamperei hat schon lange vor der Wende begonnen. Dies belegen die Folgen einer jahrzehntelangen Rat- und Tatenlosigkeit angesichts der Prekarisierung der Arbeitswelt, zunehmender Migrationsprobleme und der neuen Armut. 340.000 ÖsterreicherInnen sind akut arm. Viele sind arm, obwohl sie Arbeit haben, weil ihre Einkommen nicht existenzsichernd sind. Jede/r dritte junge ArbeitnehmerIn ist einmal im Jahr arbeitslos. Die Arbeitslosigkeit steigt. Soziale Ausgrenzung und Verarmung wurden durch die bestehenden sozialen Sicherungssysteme nicht verhindert.

Seit zwei Jahren befinden sich solidarische Netze und soziale Rechte verstärkt im Fadenkreuz neoliberaler Ziele und deren Sparpolitik. Die Kürzung von Transfers, die Einschränkung von Rechten und Ansprüchen und die Einführung von neuen Kostenpflichten ist aber nur die eine Methode. Diese ist schmerzhaft, existenziell bedrohlich und zudem politisch und finanzpolitisch gleichermaßen effektiv. Viel perfider aber sind jene Eingriffe, die auf operativer Ebene erfolgen: »Rechts-Umbau« findet überall dort statt, wo es Elemente staatlich nicht dirigierbarer Selbstverwaltung in Systemen gibt, die Teilinteressen, schutzwürdige Werte und Personen vertreten. Das Ziel ist mittelbar, so pathetisch das auch klingt, die Verfasstheit der Republik. Denn auch diese ist verschlampt worden. Das hat unter anderem, ohne das näher ausführen zu können, historische Gründe. Die österreichische Verfassung war seit 1945, nicht zuletzt aufgrund des Ständestaat-Traumas und seiner Folgen, für die Politik der zweiten Republik in ihren programmatischen Grundsätzen tabu. Es etablierte sich deshalb neben ihrer Altehrwürdigkeit eine nirgendwo festgeschriebene Realverfassung, mit deren Hilfe gesellschaftliche Entwicklungen, soziale Bedarfe und schutzwürdige Teilinteressen integriert werden konnten, ohne die Verfassung „angreifen“ zu müssen. Auch wenn das Recht immer noch vom Volke ausging, so wurde es vorab, bevor es zum Gesetzgeber als Repräsentanten gelangte, Filterungsprozessen unterzogen, die für ein Gleichgewicht unterschiedlicher Teilinteressen sorgten.

Das war ein Hilfskonstrukt in der Befolgung einer Verfassung, die aufgrund ihrer Herkunft und ihres Alters einen liberalen, individualistisch radikal-demokratischen Volksbegriff hat und für das Problem des Ungleichgewichts zwischen Interessen nur Selbstverwaltungskörper als Korrektiv anzubieten hatte. Nach zwei Jahren Wende ist die Realverfassung – so kritisch sie auch in einzelnen Ausprägungen gesehen werden muss – Geschichte. An ihrer Stelle gähnt ein blauschwarzes Loch, in dessen Sog ein Volk , reduziert auf seine Rolle als Pseudosouverän von einer Regierung missbrauchbar geworden ist.

Das ist der Kontext für die neben der inhaltlichen zweite Dimension des Volksbegehrens. Indem die Verfassung als Regelungsort für den Sozialstaat und seine Implementierung im Alltag gewählt wird, soll ein Sicherheitsnetz für das Sicherheitsnetz festgeschrieben werden, dessen Pflege trotz aller Konsensualität nach der alten Methode immer schwieriger wurde und dessen Existenzsicherung unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht mehr gewährleistet ist.

Was aufs erste wie ein verzweifelter Akt aussieht, ist bei näherem Hinschaun einigermaßen keck. Was die juristische »Machbarkeit« betrifft, ist zu vermuten, dass dieser Vorschlag bei konservativen PuristInnen dieser Zunft schwere Koliken hervorruft. Die Gegenargumente, die in den vergangenen Jahren wiederholt zur Frage der Verankerung sozialer Grundrechte in der Verfassung diskutiert wurden – der Weg übrigens, den wider besseres Wissen alle europäischen Staaten inzwischen mehr oder weniger umfassend beschritten haben – treffen auf die Forderung, den Sozialstaat als ein dem demokratischen, dem bundesstaatlichen und dem Legalitätsprinzip gleichrangiges Prinzip zu verankern, nicht zu. Unoriginell ist die Idee also keinesfalls. Im Übrigen aber geht es angesichts der politischen Situation vorerst sowieso um das politische Signal, das von einer möglichst hohen Beteiligung ausgeht. Und das Begehren auf einen Tabubruch in Form einer weitreichenden Verfassungsänderung ist nicht per se, sondern allemal nur dann obszön, wenn auch die Ziele obszön sind.