jänner-februar 2002

Doc Holliday
kommentar

Irrationale Schlussfolgerungen

Der (Anti-)Antisemitismus und die theoretischen Verwirrungen der Linken

Die Linke ist uneins wie eh und je. Einmal mehr haben dies die Reaktionen auf die Anschläge vom 11. September deutlich gemacht. Seit gut zehn Jahren beschäftigt sich die Fraktion der »Antideutschen« mit dem Antisemitismus der linken Szenen. Ein wichtiges und respektables Unternehmen. In Teilen dieses Spektrums (etwa repräsentiert in der Zeitschrift »Bahamas«) entwickelte sich das Aufdecken dieser Defizite aber zu einer Obsession. Jede kritische Gesellschaftsanalyse wird nur mehr unter dem Gesichtspunkt des eliminatorischen Antisemitismus und der spezifisch deutschen Ideologie vorgenommen.

Aus der Sicht dieser Antideutschen haben die WTC-Anschläge und die Shoah eines gemeinsam: Den irrationalen Selbstzweckcharakter. Daraus – und hier reihen sich die SektiererInnen plötzlich in den gesellschaftlichen Mainstream ein – folgt zwingend, dass die Islamisten wie seinerzeit die Nazis nur durch einen Krieg gestoppt werden können. So rechtfertigen die BellizistInnen ungerührt schwere Flächen-Bombardements mit Streubomben, zivile Tote und ganz generell US-Interventionen in allen Weltgegenden, die mit dem Terrorismusetikett belegt werden. Weiterer ungustiöser Nebeneffekt der Kriegsgeilheit: Das neue deutsche Reich nutzt die Gunst der Stunde, um wieder im Konzert der ernst zu nehmenden Militärmächte mitzuspielen. Zumindest ein Teil der antideutschen Linken schert alle Kriegsskeptiker und -gegner über einen Kamm. Dabei sind Pauschalurteile wie Antiamerikanismus oder dessen Gegenteil ohnedies obsolet: Als wären die USA ein monolithischer Block, als ginge es nicht um vorherrschende Ideologien und die konkrete Kritik an bestimmten politischen Richtungen und Würdenträgern.

Befremdlich stimmt auch die Meinung einiger Antideutschen, dass der Terror vom 11. September ausschließlich antisemitische Hintergründe gehabt habe. Der Judenhass spielte aber zweifellos nur eine Rolle unter vielen anderen. Die Vernichtung der europäischen Juden und Jüdinnen und der islamistische Terror befinden sich keinesfalls auf der gleichen Ebene. Wer dies behauptet, der relativiert die Shoah. Das Grundübel des Irrationalismus in der Welt speist sich nicht nur aus antisemitischen, sondern aus ganz unterschiedlichen Quellen.