dezember 2001

Doc Holliday
im gespräch

„Die Geschichte ist nicht zu Ende.“

Im Juni dieses Jahres veröffentlichten der inzwischen verstorbene Ex-Vorsitzende der KPÖ Franz Muhri und der derzeitige Parteichef Walter Baier das Buch »Stalin und wir. Stalinismus und die Rehabilitierung österreichischer Opfer«

Was war der Anlass dieser Veröffentlichung? Meines Wissens war ursprünglich eine umfangreichere Arbeit geplant. Was sind die Gründe, dass diese nun doch nicht zu Stande gekommen ist?

Man muss zuerst in Erinnerung rufen, wovon in dem Buch berichtet wird: Franz Muhri hat in jahrelanger Kleinarbeit die Schicksale von 300 österreichischen KommunistInnen, die Opfer des stalinistischen Terrors wurden, dokumentiert. Und das ist nur ein Teil der Tragödie, die darin besteht, dass KommunistInnen im Namen des Kommunismus ermordet wurden. In meinem Beitrag wird das zur These verallgemeinert, das »Über-Stalinismus-Reden« erfordert zu allererst auch, über kommunistische Opfer zu reden.

Ursprünglich sollte das Buch aus drei Teilen bestehen: Den von Muhri erhobenen Daten, dem theoretischen Beitrag von mir und einer Studie über die Geschichte der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus in der KPÖ. Dieser Beitrag konnte aber nicht rechtzeitig fertig gestellt werden. Der ausständige Teil soll nachgeliefert werden.

Welcher Zusammenhang besteht zwischen dem Stalinismus und dem Niedergang der realsozialistischen Staaten bzw. der generellen Krise der Linken?

Es besteht tatsächlich ein enger Zusammenhang zwischen der stalinistischen Deformation und den Niederlagen der Linken, vor allem in Europa, obwohl der Stalinismus – wie ich zu zeigen versuche – nicht logisch aus den Prämissen der kommunistischen Ideologie folgt, sondern ihr entgegengesetzt ist.

Stalinistisches Denken und stalinistische Methoden wurden auch in den kommunistischen Parteien Westeuropas durchgesetzt. Durch den Kalten Krieg und die Stalinisierung in Osteuropa ab 1948 wurde die historische Chance zu einem nachhaltigen Ausbruch aus dem Dogmatismus in den meisten Parteien vertan.

Welche aktuelle Relevanz hat diese Neubewertung der sowjetischen sowie der eigenen Partei-Geschichte?

Es geht nicht darum, den sozialistischen Versuchen des 20. Jahrhunderts und der russischen Revolution nachträglich die Berechtigung abzusprechen. In vielerlei Hinsicht hat die Sowjetunion die politischen Entwicklungen positiv beeinflusst und den Hauptbeitrag beim militärischen Sieg über die Nazis geleistet. Was aber hat Kommunismus in der heutigen Zeit zu sagen? Eine Antwort auf die heutige Welt mit ihrem schreienden Unrecht, ihren Kriegen, lässt sich nicht innerhalb der kapitalistischen Eigentums- und Machtverhältnisse finden. Wollen KommunistInnen eine positive Rolle bei der Entfaltung von antikapitalistischen Bewegungen spielen, so müssen sie sich von Avantgarde-Fantasien trennen und bereit sein, von neuen Bewegungen wie der Frauen- oder der Anti-Globalisierungsbewegung zu lernen.

Warum hat die KPÖ – verglichen mit anderen kommunistischen Parteien – so lange gebraucht, um mit der Aufarbeitung der Vergangenheit zu beginnen?

Weil die KPÖ eine der sowjethörigsten Parteien Europas gewesen ist. Die Parteiführungen haben jahrzehntelang geglaubt, den Mitgliedern die Wahrheit über die stalinistischen Verbrechen nicht zumuten zu können. Das hat zu einer Doppelmoral geführt und der KPÖ in ihrer Glaubwürdigkeit geschadet. Schließlich wurden auch nach dem Ende des Stalinismus unter dem Schlagwort »Marxismus-Leninismus« stalinistische Dogmen weiter tradiert.

An deinem Beitrag fällt auf, dass du Trotzki zitierst und dich auf ihn berufst. Das wäre noch vor einigen Jahren völlig undenkbar gewesen. Gilt Trotzki damit KPÖ-intern als »rehabilitiert«? Wird es in Zukunft einen entspannteren Umgang mit den verschiedenen kommunistischen Strömungen geben?

Der Kalte Krieg ist zu Ende und sollte auch von der Linken beendet werden. Worauf es ankommt, ist eine linke Synthese, die alle Tendenzen außerhalb bzw. links von Sozialdemokratie und Grünen erfasst. Wir dürfen unsere »klassischen« DenkerInnen nicht wie Kirchengründer behandeln, sondern ihre Beiträge im Sinne heutiger Politik kritisch sichten. Trotzki ist eine bedeutende historische Figur, Führer der russischen Revolution, brillanter Analytiker. Trotzdem stimme ich nicht jeder seiner Thesen zu, ich bin kein »Trotzkist«, wobei ich mich auch frage, was das heute eigentlich bedeutet, existiert doch der Bezugspunkt der traditionell linken Trennungen, der realsozialistische Block Osteuropas nicht mehr.

Müssten nicht auch andere »Abweichler« in neuem Lichte betrachtet werden?

Ja, das liegt auf der selben Linie. 1998 habe ich öffentlich mein Bedauern denjenigen KommunistInnen gegenüber ausgesprochen, die nach 1968 ungerechterweise aus der KPÖ gedrängt worden sind. Ich halte Franz Marek, Ernst Fischer, Leopold Spira, die man richtigerweise als theoretische Vorläufer des Eurokommunismus bezeichnen könnte, für bedeutende Theoretiker der österreichischen und der europäischen Linken.

Was verbindest du mit dem Begriff »Dogmatismus« und welchen Stellenwert hat dieser in der heutigen KPÖ?

Dogmatismus ist die Verwechslung von Theorie und Doktrin, von Wissenschaft und Glauben, von Kirche und Partei. Das ist für jede linke Bewegung, die sich in defensiver und isolierter Lage befindet, ein Problem. Aber die sich ständig verändernde Realität des globalen Kapitalismus, die globalen antikapitalistischen Bewegungen, die außerhalb und unabhängig von der traditionellen Linken entstehen, vertragen sich mit keinem Dogmenstreit. Gemessen an der heutigen Möglichkeit führt Dogmatismus vor allem zu einem anachronistischen Politikverständnis.

Kann und wird diese Beschäftigung mit der eigenen Geschichte der Partei zu einer neuen Identität verhelfen?

Es gibt für die Linke und auch für die KPÖ heute keine Patentrezepte.

Notwendig ist – Schritt um Schritt – neue Elemente einer linken Hegemonie aufzubauen. Ein solches Programm kann nur in den politischen und sozialen Kämpfen des 21. Jahrhunderts entstehen. Die Geschichte ist nicht zu Ende. Das kann auch für die Geschichte des Kommunismus gelten.