september-oktober 2001

Wiglaf Droste

Depressionsgruppe ahoi!

Alle reden von der Winterdepression. Warum nur? Die Sommerdepression ist doch die viel größere Herausforderung. Zwar nimmt man als Depressionsprofi auch die Winterdepression mit und nickt die allgemeinen Wehklagen über Lichtmangel, Kälte, Trüb- und Düsternis auch mit freundlichem Desinteresse ab, aber die flache Hürde der Winterdepression ist für gewöhnlich mit links gemeistert. Die Sommerdepression ist ein ganz anderes Geschütz - vor allem, weil man im Sommer so viel mehr Grund zur Schwermut hat. Denn wenn es auch sommers hie und da honigsüß nach Linde duftet und nach diverser Blume - so müfft's doch meistenteils brachial güllig aus tausend Gullys. Ratten, taumelig und träge, schnüren schlurfig am Kanalufer und fliehen den Passanten allenfalls noch andeutungsweise, wie höhnisch ihn verspottend. Die Kanalisation lässt faulige Fürze aufsteigen, warmer Wind pustet sie in alle Ecken der Stadt. Der Hühnerhaus-Imbissverbrecher ums Eck stinkt zum Himmel und zum Balkon. Das ist die berühmte Berliner Luft-Luft-Luft, sie mulmt den Kopf ein und kocht ihn weich. Setzt man sich aufs Radel, um immerhin etwas kühlenden Fahrtwind zu erhaschen, geht auch das in die Grütze: Der im Winter angenehm verpackte und verschnürte Mitmensch zeigt im Sommer allen alles. Das Fleischerne kommt ans Licht, auch wenn die Blindenhunde knurren. Unterwäsche heißt Unterwäsche, weil sie unter anderen Kleidungsstücken getragen wird – nicht aber von der Sommersorte Mensch, o nein! So erfährt man, dass viele Menschen gleich welchen Geschlechts Tangas tragen. Das ist ja hochinteressant. Notdürftig bedeckte Analfalten, die doch zu den sehr privaten Regionen des Körpers zählen, werden dem leis erschauernden Betrachter unter die Nase und vor die Augen gereckt. Schwangere sonder Zahl eiern über die Gehsteige; es ist ein Gerücht, dass die Deutschen ausstürben: Kraft ihrer Ei- und Samenzellen lehnen sie sich mächtig dagegen auf, auf dass die Sonnen- und Sommerfreunde niemals alle werden. Viele viele Muttiregistertonnen rollen heran und fahren Kinderwagen auf, oder deren Vorstufe: unbedeckte Wasserballbäuche mit Gummistöpselnabel. Der Betrachter hat größte Mühe, gerade noch durchzuhuschen. Was soll er sagen als: Ja, sicher, das alles gibt es wohl. Doch vieles, das privat sehr schön, wird öffentlich nicht gern gesehn.

So wendet er sich ab von der massenhaften Bedrückung und neigt sich einer vergleichsweise tröstlichen Depression entgegen.

Das Schöne an der Depression ist, dass man sie ganz für sich allein hat. Anders als der zwangsfröhliche Charakter braucht der Depressive keine Selbstversicherung durch die Gruppe. Jeder ist seine eigene Depressionsgruppe. Was nicht heißt, dass man sich nicht hin und wieder zusammenfinden kann mit einer anderen solitären Depressionsgruppe. Dann wird Musik aufgelegt, zauberhaft melodiös und von so unirdischer Süße und Schönheit, dass man aus dem Fenster springen möchte. Doch Vorsicht: Das gilt nicht bei Leuten, die Parterre wohnen oder im ersten Stock. Das sind Depressionsangeber oder Depressionssimulanten, Depression-light-Mitläufer, Trittbrettdepressive, die sich interessant machen wollen. Sprechen wir lieber vom harten Kern, der weiß, wie es ist: Man muss nicht traurig sein, wenn die Depression geht. Man weiß ja, dass man sich bald wiedersehen wird. Die Depression ist dem Depressiven eine treue Geliebte.

Groß sind die Abende, wo man im engen Kreis befreundeter Depressionsgruppen beieinander hockt und sich die deprimierendsten Ereignisse der letzten Zeit erzählt, die Verwick- und Verwurstelungen des Lebens, die Hürden, die schier nicht mehr nehmbar schienen, die Klippen, an denen man beinahe zerschellte, Geschichten von Lebensmüdigkeit, Verzweiflung, Paranoia und Eben-noch-davongekommen-Sein, die soviel wahrhaftiger und lustiger sind als alles, was man hierzulande als Komik aufgedrängelt bekommt. Wer von wahrem Humor sprechen will, darf von der Depression nicht schweigen.