sommer 2001

Thomas Neuhold
kommentar

Dollfuß-Syndrom

Wer die in der Politik agierenden Personen betrachtet, kann unschwer feststellen, dass es im Vergleich zum Bevölkerungsschnitt in der Politik eine besondere Anhäufung von kleingewachsenen Männern gibt. Diese gehören oftmals auch zu den besonders Radikalen ihrer jeweiligen Denkrichtung. In Anspielung auf die vermutete Kompensation von ebenfalls vermuteten Minderwertigkeitskomplexen kleinwüchsiger Männer nennt man dieses Phänomen umgangssprachlich gerne »Dollfuß-Syndrom«. Der christliche Politiker Engelbert Dollfuß, der am 12. Februar 1934 die Demokratie in Österreich brutal über den Haufen schießen ließ, war von auffallend kleiner Statur.

Es mag Zufall sein, dass der christliche Politiker Wolfgang Schüssel auch nicht gerade zu den Riesen gehört. Die von der ÖVP in den vergangenen Monaten eingeschlagene ideologische Linie ist sicher nicht zufällig, sondern sie zeugt von einem ganz anderen »Dollfuß-Syndrom«: Österreichs Konservative haben ihren großbürgerlich-liberalen Flügel an den Rand der Partei gedrängt, die machtberauschte Parteielite hängt indes reaktionären Polit-Konzepten wie der ideologischen Überbetonung einer in der modernen Arbeitswelt ohnehin nicht mehr existierenden »Familie« nach.

Dazu kommt der Zug ins Autoritäre. Es mag für viele Schwarze angenehm sein, dass die Drecksarbeit von den Blauen besorgt wird. Der eigentliche Skandal am jüngsten Versuch von FPÖ-Justizminister Dieter Böhmdorfer, den ohnehin nicht besonders ausgeprägten Aufdeckungsjournalismus in Österreich zu kriminalisieren, ist das Schweigen der ÖVP dazu. Jede christdemokratische oder christlichsoziale Partei in Europa hätte solche Bestrebungen brüsk zurückgewiesen. Nicht so die Volkspartei: Nur ganz zögerlich erinnerten sich einige wenige Schwarze an eines der höchsten bürgerlichen Ideale: die Pressefreiheit.

Ach ja, das Portrait von Engelbert Dollfuß, der 1934 Arbeiterwohnungen mit Kanonen beschießen ließ, hat immer noch einen Ehrenplatz im ÖVP-Nationalratsklub.