märz 2001

Wiglaf Droste

Ich gedachte nicht Siegfried Bubacks

Eine Selbstbezichtigung

Gut erinnere ich mich an den Todestag des Generalbundesanwalts Siegfried Buback. Es war in den Osterferien 1977. Meine Eltern hatten es für eine Idee gehalten, mich ein Praktikum bei der Sparkasse absolvieren zu lassen. Ich war fünfzehn und schon kriminell: Das Mofa, mit dem ich jeden Morgen zur Filiale fuhr, hatte ich frisiert; statt der erlaubten 25 Km/h schaffte das Fahrzeug gut das Doppelte. So beginnen Verbrecherkarrieren.

In der Sparkasse war es vor allem langweilig. Ich sortierte Formulare und frankierte Briefe. Betreut wurde ich von einer älteren Dame, die Zeugin Jehovas war und tatsächlich Frau Göttlicher hieß. Von sporadischen Bekehrungsversuchen abgesehen war sie sehr nett; das jehovasche Besserungsbuch, das sie mir schenkte, hieß »Mache deine Jugend zu einem Erfolg« und warnte eindringlich vor Mädchen, Drogen und den Gefahren der Selbstbefleckung. Es war ein solcher Kokolores, dass ich beim Lesen richtig Spaß hatte und erst recht Lust auf alles Verbotene bekam.

Die Sparkassenfiliale hatte eine eigene Kantine. Eines Mittags kam der Filialleiter hereingestürzt und fiel uns vor Aufregung fast ins Essen. „Generalbundesanwalt Siegfried Buback ist von der RAF ermordet worden!“, schrie der Mann atemlos. „Ich bitte Sie, jetzt aufzustehen und eine Gedenkminute einzulegen.“ Wie Angestellte so sind, standen gleich alle auf. Frau Göttlicher blieb sitzen. „Diese weltlichen Dinge gehen mich nichts an“, sagte die Zeugin Jehovas. Ich blieb ebenfalls hocken und sagte nichts. Alle starrten uns an. Nachdem sie ihr verdruckstes Mundzuklappen beendet hatten, ließen sie ihren Hinrichtungsphantasien freien Lauf. „Kopf ab!“-Gemurmel quoll ihnen aus den Köpfen. Ein halbes Jahr später, nach der Ermordung des früheren SS-Offiziers Hanns-Martin Schleyer, der in Prag Reinhard Heydrichs Stellvetreter gewesen war und stets Wert darauf gelegt hatte, kein Mitläufer, sondern Nationalsozialist der ersten Stunde gewesen zu sein, war die deutsche Volks- und Notgemeinschaft dann endgültig hysterisiert. Die gesamte Presse warf alle Reste von Unabhängigkeit von sich, machte begeistert Polizeiarbeit und übte sich in Meutenjournalismus. Diese kollektive Finsternis im Jahr 1977 war der initiale Grund für die Erfindung der »taz«.

Warum hätte ich zum Gedenken an Siegfried Buback aufstehen sollen? Damals, mit fünfzehn, sechzehn, erschienen mir die RAF-Leute als Robin Hoods: Sie schienen all den miesen restnazistischen Deutschen die Angst einzujagen, die ich ihnen nicht einjagen konnte. Den Landsleuten war alles zuzutrauen: Regelmäßig konnte man sie dabei beobachten, wie sie auf den überall aushängenden Steckbriefen die Erschießung einer Terroristin oder eines Terroristen mit Kugelschreiber oder Filzstift noch einmal ganz persönlich nachvollzogen und ein Gesicht auskreuzten. In ihren Mordgelüsten wussten sie sich kollektiv und staatlich gedeckt. Dieses Potential schien mir weit bedrohlicher als eine Handvoll Desperados, ein paar Verzweifelte, die dem Staat den Vorwand zu seiner Bis-an-die-Zähne-Bewaffnung lieferten.

Einige Jahre später begann ich, das etwas anders zu sehen. Die Mitglieder der Roten Armee Fraktion verstanden ihre Aktionen als militärische Handlungen. Sie waren Soldaten, und wie Soldaten Mörder sind, waren auch die schießenden RAF-Soldatinnen und -Soldaten Mörder. Zwar wurde der RAF penetrant maximale Feigheit, Niedertracht, Heimtücke und Entmenschtheit unterstellt, während stinknormale deutsche Soldaten als tapfere Landes- und Freiheitsverteidiger, als bewaffnete Ethiker der Pflicht aufschimmerten (und heute wieder aufschimmern), doch die Morde der RAF waren nichts als Morde von Soldaten ohne Uniform - nicht mehr, aber eben auch nicht weniger. Auch wenn sie zahlenmäßig so unterlegen waren, dass jedes juvenile Indianerherz für sie schlagen musste: Nur weil ihre Gegner so abstoßend waren, waren die RAFler eben doch nicht die Guten. Bei genauerer Betrachtung verlor die RAF den Glanz, den meine jugendliche Verklärung ihr beschert hatte. Retrospektiv sehe ich eine elitäre Sekte, einen staatsanwaltlich selbstgerechten deutschen Verein zur Exekution linker Kammerjägerbedürfnisse, die so ungustiös sind wie andere Kammerjägerbedürfnisse auch. Wer andere sterben sehen muss, um selber leben zu können, ist eine ganz arme Sau.

Sich für etwas zu schämen, das man gedacht oder getan hat oder dafür um Entschuldigung zu bitten, ist eine sehr persönliche und private Angelegenheit. Wenn Sabine Christiansen, die Bild-Zeitung und andere Volkssturm-Medien öffentliches Schämen einfordern, entsteht jene schamlose Soße, deren Herstellung das Geschäft eben dieser Medien ist. Michael Buback suchte sich mit Christiansen das banalstmögliche Medium dazu aus, von Jürgen Trittin eine Entschuldigung zu verlangen, eine Distanzierung vom legendären »Mescalero«-Nachruf auf Siegfried Buback. Diesen Text hat Trittin weder verfasst noch publiziert, und er hält ihn - zu Recht - für einen wenn auch grob geschriebenen Aufruf zur Abkehr von der Gewalt gegen Repräsentanten des Staates, so widerwärtig sie auch sein mögen. Das hat Trittin Michael Buback mitgeteilt, als dieser ihn bei einer zufälligen Begegnung im Zug zu einer Distanzierung aufforderte. Buback posaunte diese Begegnung noch am selben Abend bei Christiansen aus und führte sich auf wie eine durchgeknallte Marzipankartoffel. Liberale Publizisten wie Heribert Prantl sekundieren solcher emotionalen Einpeitscherei, indem sie vorauseilend die Phrasen von der Menschenverachtung und dem Zynismus jedweder Gewalt litanieren in der Klassenstrebersorge, des Sympathisantentums bezichtigt zu werden. Als wäre nicht durch die Wahl des Mediums geächtet, wer sich kreischend und armfuchtelnd in Gefühl-statt-Verstand-Zeitungen und -Shows produziert - und als wäre es nicht gleichgültig, was die Berufsdenunzianten von Bild & Co. einem anhängen. Wer – wie Joseph Fischer, Gerhard Schröder und Rudolf Scharping – mit Hilfe dieser Medien Macht erwirbt und erhält und sogar Krieg führt, soll sich nicht über mangelnde Medienmoral beschweren, wenn er in dem Dreck umkommt, zu dem er greift, wenn er nützlich ist.

Es wäre hilfreich gewesen, wenn Jürgen Trittin dem aufdringlichen Begehren Michael Bubacks nicht doch noch in einem zweiten Anlauf nachgekommen wäre, um seine ohnehin hoffnungslosen Popularitätswerte zu verbessern. Ihm nützt es nichts, und er versäumte eine gute Gelegenheit, die penetranten Entschuldigungsbefehle der Rechten deutlich zurückzuweisen. Das Rückgrat des deutschen Umweltministers reicht aber nur so weit, zugunsten einer Zeitungsillustrierte privat am Grill zu posieren und später im »taz«-Interview schneidig zu erklären: „Ich habe stets versucht, mein Privatleben aus der Öffentlichkeit herauszuhalten.“ Netter Versuch.

Der Ton in der deutschen Vergangenheitsrechtfertigungsdebatte um grüne Minister hat eine Anmutung von 1977: Geschichtslose rechte Denunzianten nehmen frech jeden in die Zange, der sein Leben nicht wie sie verbrachte: zwanghaft nickend, die Hände an der Hosennaht, verkümmert jasagend, karrierefixiert und die Analfalten ihrer Lehrer, Professoren und Vorgesetzten entsprechend ausschleckend. Repräsentiert werden diese Leute unter anderem durch den glatten Turbokarrieristen Guido Westerwelle von der FDP und die CDU-Chefin und Pietätsaufpasserin Angela Merkel, die im Januar ein Amt erhielt, das ihr gut zukommt: Merkel wurde die deutsche Grünkohl-Königin 2001.

Jürgen Trittin, um sein Amt bangend, kuschte. Er beging die Dummheit, bei Michael Buback öffentlich den katholischen Bückling zu machen. Diese Demutsadresse an Buback erleichtert Madame Merkelferkel und anderen rechten Propagandaschreihälsen ihr Oinken über die angeblichen Verbrechen der 68er.

Von Wiglaf Droste erscheint

im März ein neuer Glossen- und Geschichtenband:

Die Rolle der Frau,

Edition Tiamat, Berlin 2001, 240 S., ca. 200 ÖS

Wiglaf Droste liest und singt mit dem Spardosen-Terzett: 6.3. Wien, Orpheum;

7.3. Linz, Posthof;

9.3. Dornbirn, Spielboden