jänner-februar 2001

gelesen

»Günter Brödl, Ronald Putzker: Rehpublik Österreich.«, »KLAUS SCHÖNBERGER (Hrsg.) : Va Banque«, »PETER HIESS/CHRISTIAN LUNZER: Mord-Express«, »Vizconde de Lascano Tegui: Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten«

Günter Brödl, Ronald Putzker

Rehpublik Österreich.

1. autorisierter Reiseführer

Eichborn 2000

Der im Oktober letzten Jahres unerwartet verstorbene Ostbahn-Kurti-Erfinder Günter Brödl führt uns zusammen mit dem Zeichner Ronald Putzker in einen bis dato unbekannten Zwergstaat „zwischen Innviertel und Bayerischem Wald“, der „im Osten und Süden an Österreich“ grenzt und in dem 78 Prozent der Bevölkerung aus Rehen besteht. So erfahren wir, gespickt mit subtilen Querverweisen und skurril-ironischen Andeutungen, alles Wissenswerte über »Reh-Tech« aus dem »Rehlicon Valley«, Musikstile wie »Rehtno« und den »Rehggae«-Star Jah Reh (»I Shot The Hunter«). Nicht zu vergessen Pioniere wie Otis Rehding, Reh Charles und Ella Kitzgerald, der auch die »Kitztaler Jazztage« gewidmet sind. Interesse an einem »Rehpublik«-Besuch wecken jedoch auch prähistorische Höhlenmalereien, auf denen sich „Jäger von gebückter Gestalt, mit langen Armen“ langsam zum aufrechten Gang und schliesslich Hut mit Gamsbart entwickeln. Aber auch in der »Rehpublik« ist nicht alles sozusagen ein Salzlecken. Gibt es doch den »Landschaftsmaler und Lokalpolitiker« Egon Ricklhuber und dessen »Prostest Partei«, die sich „aus dem Umfeld rechtsradikaler Damhirsch-Rudel“ zusammensetzt und mit „ricken- und ausländerfeindlichen Attacken“ unter dem Motto »Elche raus!« den „sofortigen Einwanderungsstop für Elche, Rehntiere und andere nordische Sozialschmarotzer“ fordert. Auch ansonsten gibt es Ähnlichkeiten zu »Nebenan«. Ist es doch für Neuankömmlinge „so gut wie unmöglich, ein ruhendes von einem arbeitenden Reh zu unterscheiden.“ Hinfahren!

Didi Neidhart

KLAUS SCHÖNBERGER (Hrsg.)

Va Banque

Bankraub, Theorie, Praxis,

Geschichte.

Verlag Libertäre Assoziation,

Hamburg 2000

und

PETER HIESS/CHRISTIAN LUNZER

Mord-Express

Die größten Verbrechen in der Geschichte der Eisenbahn.

Deuticke, Wien 2000

In Zeiten wie diesen wird die Beantwortung der Frage aller Fragen »wo das Geld zum Leben hernehmen, wenn nicht stehlen« wieder dringlicher denn je. Mit braver Lohnarbeit geht es sich kaum aus. Beim Lottospiel legt man sich mit der Wahrscheinlichkeitsrechnung an, ein meist aussichtsloses Unterfangen. Bleibt also ein anderer Tagtraum, eine kollektive gesellschaftliche Phantasie, um die leidige Geldnot zu beheben: eine Bank ausrauben. Eine Tat, die in die bürgerlichen Eigentumsverhältnisse eingreift und eine (meist eher kurz- denn längerfristige) Umverteilung des Reichtums zur Folge hat. Herausgeber Klaus Schönberger, der für sein Standardwerk überraschenderweise keine Sponsoren aus der Finanzwelt aufzutreiben vermochte, gelingt eine umfassende Darstellung des Themas in all seinen Facetten. Gewürdigt werden nicht nur Bankraube, sondern auch Tresorbrüche, Überfälle auf Geldtransporter und Postzüge. Letzteres behandeln auch die Wiener Autoren Hiess und Lunzer in ihrem ebenfalls sehr empfehlenswerten Buch: Mit dem Protagonisten Ronnie Biggs, der Anfang der 60er Jahre am legendären englischen Postraub beteiligt war und durch Gesang und Herumtollerei mit den Sex Pistols zum Punkhelden avancierte. Die gründlich recherchierten Geschichten würden sich vorzüglich für eine »alternative« ÖBB-Werbung eignen. Nach dem Motto: In die Bahn setzen und das Buch lesen, damit Zugfahren wieder zum Gruselabenteuer wird. Den Gorbatschow braucht der Reisende dann nur mehr in seiner flüssigen Form.

Doc Holliday

Vizconde de Lascano Tegui

Familienalbum mit Bildnissen von Unbekannten

Zsolnay Verlag, Wien 2000.

Als vor fünf Jahren der Tagebuch-Roman »Von der Anmut im Schlafe« in deutscher Übersetzung erschien, ein sinistres Stück schwarzer Romantik und Decadence, wo die Trauer über den unabdingbaren Verlust der Kindheit in einen acte gratuit einmündet, war über seinen Autor so wenig in Erfahrung zu bringen, dass er genauso gut der Erfindungskraft Borges entsprungen sein hätte können, falls nicht - ja, falls nicht Borges eine der Masken war, die sich Lascano Tegui zugelegt hatte, um ...

Eines stand jedoch fest, dass es sich um einen falschen Adeligen gehandelt hat - etwas, was der Literatur nicht nur seit dem in Montevideo geborenen »falschen Grafen« Lautréamont ganz gut zu Gesicht steht, als dessen »Vize« der nur quer über den Rio de La Plata in Buenes Aires aufgewachsene Lascano Tegui leicht hätte agieren können.

Mittlerweile haben sich die Dünste der Spekulation etwas gelichtet, sodass das 1936 erschienene »Familienalbum«, Roman der Mini-Romane, auch dem Werk irre Sprünge hinzuzufügen vermag: Grätschen etwa zwischen Aragons »Pariser Bauer«, einer frühmittelalterlichen Enzyklopädie wie der des Isidor von Sevilla und der Versicherungsmathematik, deren gemeinsamer Nenner im geteilten Glauben bestünde, dass es bloß des einen geheimen Schlüssels bedürfte, um Menschen, Dinge und Ereignisse in eine alles erlösende, Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft auftröselnde Genealogie setzen zu können.

Der Versicherungsinspektor Michael Bingham, einer der wenigen Überlebenden einer Eisenbahnkatastrophe, wird von seiner Gesellschaft beauftragt, mittels unfassender familiengeschichtlicher Nachforschungen zu den Opfern die Firma imstande zu setzen, die Prämien zu erhöhen und die Leistungen kürzen zu können. Nach einundzwanzigjähriger Recherche kann Bingham nur den Konkurs seines Auftraggebers feststellen und übergibt die Blätter dem Wind, wobei es dem zufällig vorbeikommenden Herausgeber-Autor gelingt, sechs Dossiers vor der Verstreuung zu retten - Familiengeschichten, die jeder Beschreibung spotten.

»Klatsch- und Kriminalgeschichten« aus der Spalte »Vermischtes« vom 12. bis ins 19. Jahrhundert, abseits jeglicher historischer Wahrscheinlichkeit kreuzen sich mit haarsträubenden, ins Absurde überführten nationalen Stereotypien - und lassen ihre Protagonisten in einem Zug Platz nehmen, der im Jahr 1900 in sein (und ihr) Unglück rast. Der Zug rast nur in sein Unglück, weil es der Autor so will, und der Autor will es, damit Michael Bingham die Chance erhält zu beweisen, dass sich nichts beweisen lässt, dass die Gegenwart nicht aus der Vergangenheit folgt und als einziges der Aberwitz der Geschichte übrig bleibt. Quod erat demonstrandum.

Wolfgang Karlhuber