juni 2000

Isolde Charim
titel

Widerstand auf Sommerfrische

Was macht der Widerstand im Sommer? Eine hübsche Frage eigentlich.

Macht der Widerstand Urlaub? Bräunen sich die Aktivisten in südlichen Gefilden? Oder gönnen sie sich ihre wohlverdiente Verschnaufpause in luftiger Höhe? Jenseits solcher verführerischer Vorstellungen zielt diese Frage eigentlich auf etwas wesentlich Nüchterneres - auf die Frage nämlich, ob es den Widerstand eigentlich noch gibt. Ist Widerstand im Sommer noch Widerstand? Welche Kontinuität hat er zu erfüllen, um Widerstand zu sein? Oder umgekehrt: Wäre es kein Widerstand mehr, wenn er solcher Kontinuität entsagen würde? Hieße (Sommer)Pause eigentlich Ende? Also Normalisierung. Oder gar Akzeptanz?

Diese Frage ist nicht nur punktuell zu beantworten (obwohl auch dies natürlich Relevanz hat und demgemäß weiter unten behandelt werden soll), sie ist vor allem prinzipiell zu bedenken. Und prinzipiell muss man sagen: Nein. Seit dem Zustandekommen dieser Regierungskonstellation ist etwas aufgebrochen in diesem Land. Das Grundvertrauen, mit dem man hier bislang gelebt hat, ist infrage gestellt. Wollte man in den siebziger Jahren alle Lebensbereiche mit Demokratie durchfluten, so wurde dies nun durch Misstrauen ersetzt. Die anfängliche Depression angesichts der Tatsache, dass das, was bisher galt, nun nicht mehr gelten sollte, ist direkt in die Euphorie des 19. Februars gekippt. Damit sind nicht nur die Manifestation am Heldenplatz gemeint, sondern auch die täglichen »Wanderungen« durch Wien, die unzähligen, spontanen Aktionen, die neuen Gruppierungen, die sich gebildet haben. Natürlich ist eine Emotionalisierung, noch dazu eine kollektive, nicht auf Dauer in dieser Intensität aufrechtzuerhalten. Angesichts dessen ist es wirklich erstaunlich, wie zäh und lebendig der Widerstand nach wie vor ist.

Gleichzeitig gibt es aber auch eine unübersehbare gegenläufige Tendenz.. Diese sehnt sich danach, jene Offenheit der Situation zu schließen. Zu dieser Richtung gehören nicht nur Anhänger der Regierung; auch Leute, die gegen sie sind, sehnen sich nach einer gesellschaftlichen Normalisierung. Denn die anfängliche Euphorie hat etwas verdeckt, was nun zum Vorschein kommt: die Doppeldeutigkeit des Aufbruchs. Dieser ist nicht nur eine Neuformierung der Zivilgesellschaft - er bezeichnet auch das Aufbrechen einer gefestigten Situation, die Öffnung einer tiefen, gesellschaftlichen Kluft, das plötzliche Entstehen einer fundamentalen Ungewissheit - kurz, was nun auftritt, ist der Schrecken. Und dieser strebt nach Normalisierung, einer Normalisierung, die dort, wo sie sich auf Regierungsebene nicht durchsetzen kann, zumindest das andere Ende angreift und sich das Ende des Widerstands wünscht. Das Problem ist nur: Es gibt kein Zurück. Es gibt keine Rückkehr zum status quo ante. Das ist das Wesen eines Bruchs.

Die Freiheitlichen sind eine Partei, die davon lebt, den Nachkriegskonsens dieser Republik zu solch einem schlüpfrigen Boden zu machen, dass sie beständig darauf »ausrutscht«. Der Eintritt dieser Partei in die Bundesregierung, die Tatsache also, dass die Freiheitlichen nun nicht mehr nur das partikulare Interesse ihrer Wähler vertritt, sondern - bis zu einem bestimmten Grad - auch allgemeine Staatsinteressen, diese Tatsache hat die Grundfesten der Zweiten Republik erschüttert. Es zeigt sich übrigens, sozusagen rückwirkend, nochmals, worin diese Grundfesten tatsächlich bestanden haben: in dem Zusammenhang zwischen Abgrenzung gegen den Faschismus und sozialem Frieden (wie problematisch dieser Zusammenhang auch gewesen sein mag). Das Verhältnis von Antifaschismus und Sozialpartnerschaft, das sich in der Urszene der Zweiten Republik - der Versöhnung der ehemaligen Bürgerkriegsparteien in der Lagerstraße - verdichtet hat, dieses Verhältnis bedarf tatsächlich einer wissenschaftlichen Erörterung - nunmehr allerdings einer durch Historiker.

Die Erschütterung dieser Grundfesten brachte unlängst selbst den Präsidenten der Industriellenvereinigung zu der Aussage: »Wir brauchen Grundkonsens über einen neuen Gesellschaftsvertrag.« Der Klubchef der VP, Andreas Khol, hingegen meinte dazu: »Nicht schon wieder Konsens, Herr Präsident! Wir brauchen Konfliktfreude.« Ein Einwand, der deutlich macht, wie wenig die ÖVP die gegenwärtige Situation erfasst. Solch eine Streitkultur bedarf eines gemeinsamen Bodens, auf dem sie ausgetragen werden kann. Auf erschütterten Grundfesten kann es keine »Konfliktfreude« geben. Hier stehen sich vielmehr Konflikt und Widerstand gegenüber.

Dies ist das Signum einer Krise. In einer Krise wird ein gesellschaftlicher Bereich dominant, eine Sphäre wird zum Zentrum, ein Konflikt wird zentral. Wir befinden uns in Österreich in einer anhaltenden Krise, und diese Krise ist eine politische (es gibt auch andere). Das heißt nicht nur, dass der Bereich des Politischen derzeit zentral für das Gesellschaftliche ist. Es heißt auch, dass alle anderen Bereiche diesen zentralen politischen Konflikt auf ihre Art austragen. Die Übertragung des politischen Konflikts auf andere Felder bedeutet aber, dass die einzelnen gesellschaftlichen Bereiche eine neue Spaltung erfahren. Insofern gibt es eine tief greifende Veränderung der österreichischen Gesellschaft. Wobei diese Trennlinien nicht nur zwischen Anhängern und Gegnern der Regierung verlaufen. In der Theorie etwa, im akademischen Leben, ist die Demarkationslinie wesentlich diffiziler. Hier gibt es eine vehemente Spaltung zwischen jenen, die in der gegenwärtigen politischen Situation kein Problem sehen, bzw. die das Problem vor allem bei »hysterischen Gutmenschen« verorten - und jenen, die Widerstand leisten. Insofern beginnt der Widerstand in der Theorie bereits dort, wo man bekundet, dass er überhaupt notwendig sei.

So wie DER Konflikt also verschiedene Formen annimmt, so hat auch DER Widerstand unterschiedliche Artikulationen. Man könnte auch sagen, DEN Widerstand gibt es eigentlich nicht. Es gibt nur viele verschiedene Widerstände, die in einer breiten Streuung sämtliche Gesellschaftsbereiche durchziehen. DER Widerstand setzt sich aus vielen großen und kleinen Initiativen zusammen: Er ist ein de-zentrales Ganzes. Dieses läßt sich nicht vereinheitlichen. Es lässt sich bestenfalls vernetzen - so das neue Zauberwort.

Gleichzeitig aber sollen alle diese Widerstände eine Bündelung erfahren. Deshalb hat die »Demokratische Offensive« eine Kampagne für den Rücktritt der Regierung und für Neuwahlen gestartet. Diese Forderung funktioniert wie ein Seismograph: Sie zeigt an, dass wir uns - anhaltend - in einer Krisensituation befinden. Sie zeigt an, daß die Regierung keinen Weg zur Stabilisierung der Situation findet. Und sie zeigt an, dass sich das tiefe Unbehagen an dieser Koalition (gepaart mit dem täglich wachsenden Unmut) nicht »normalisieren« lässt. Und insofern bildet das Erheben dieser Forderung den gemeinsamen Nenner, die Zusammenfassung all jener Aktivitäten, die derzeit die gesamte österreichische Gesellschaft durchdringen.

Natürlich ist die Forderung nach Neuwahlen kein juristisches Mittel. Es folgen daraus nicht automatisch Neuwahlen. Aber es ist ein politisches Mittel - und es funktioniert auf zwei Ebenen. Zum einen stellt es die derzeitige Regierung infrage und sucht nach einer Lösung auf staatlicher Ebene. Zum anderen aber interveniert es auf der Ebene der Gesellschaft. Denn das Sammeln der Unterschriften ist gleichbedeutend mit der Herstellung eines Umfeldes, eines gesellschaftlichen Klimas. Hier fokussiert sich die tief gehende Politisierung der Gesellschaft. Jede einzelne Unterschrift ist ein Symbol dafür. In diesem Sinne ist die Forderung nach vorzeitigen Neuwahlen die Fortsetzung des Protests mit anderen Mitteln.

Diese Art, den Widerstand zu bündeln, muss aber unter Anführungszeichen gesetzt werden: Es ist eine »Bündelung«, denn sie ist selbst de-zentral. Die Demonstration am Heldenplatz am 19. Februar war eine Konzentration, eine Zentrierung der Kräfte. Die Menschen kamen von überall - aus ganz Wien, aus ganz Österreich (und darüber hinaus), um diesen leeren Platz zu füllen, um das leere Zentrum der Demokratie zu besetzen. Hier fielen das Räumliche und das Symbolische zusammen.

Die Unterschriftenaktion hingegen bietet die Möglichkeit, diesen Protest nun de-zentral zu artikulieren. Das heißt, die Bundesländer können auf ganz andere Art einbezogen werden. Sie müssen nicht zum Protest kommen, der Protest kommt zu ihnen. Dies bietet die Möglichkeit, den Protest doppelt de-zentral zu formieren: sowohl räumlich als auch zeitlich (in den unterschiedlichen politischen »Saisonen«). In diesem Sinne macht der Widerstand nicht Urlaub, aber Sommerfrische - er strömt aufs (ganze) Land.

Isolde Charim ist Lektorin am Institut für Philosophie, Publizistin, Mitbegründerin der Demokratischen Offensive Österreich