mai 2000

Hannes Höller
gelesen

Erich Stöller Mythos und Aufklärung.

Psychoanalytische und kulturgeschichtliche Aspekte des Themas Herrschaft. Verlag Hans-Dieter Heinz. Akademischer Verlag Stuttgart 1999

In den letzten Jahren sind die Kulturwissenschaften in Mode gekommen. Alles, was ist oder einmal war, ist Kultur und jede Art von historischer Empirie oder unkritischer Sachkunde nennt sich nun kulturwissenschaftliche Studie. Genau gegen diesen verdinglichten Begriff von Kultur und Wissenschaft wendet sich Erich Stöllers eben erschienene Arbeit zu »Mythos und Aufklärung« - als wäre sie als Reaktion auf diese »kulturwissenschaftliche« Stoffhuberei geschrieben worden und nicht schon mehr als zwanzig Jahre davor: »Im Aufzählen der ›Fakten‹ und dem intellektuellen Kniefall vor dem, was ›erhärtet‹ erscheint, wird übersehen und unterschlagen, dass das dingfest Gemachte Ergebnis geschichtlicher Vorgänge ist und damit so vergänglich wie je ein historisches Phänomen (...) Die positivistische Sicht der Dinge macht aus dem, was ist, einen Mythos und aus dem, was sein kann, eine unwissenschaftliche Betrachtungsweise.«

Die noch bei Igor A. Caruso verfaßte Dissertation über »psychoanalytische und kulturgeschichtliche Aspekte des Themas Herrschaft« gehört zu den heute selten gewordenen wissenschaftlichen Studien, die eine kritische Theorie der Gesellschaft und des Ich vertreten und, gegen die gesellschaftliche Verhinderung, am Glücksanspruch des Menschen festhalten.

Ungewöhnlich ist die Form der Arbeit: eine dialogische Auseinandersetzung mit den großen Kulturtheorien der Moderne, vor allem der Psychoanalyse und der Frankfurter Schule, anhand von historisch-psychologischen Fallstudien zu den frühen Formen psychischer Verarbeitung der Übermacht äußerer Natur in Mythos und Folklore bis zur tendenziellen Verinnerlichung von Gewalt in der bürgerlichen Gesellschaft. Den thematischen Faden stellt die Frage nach der Vermittlung von äußerer und innerer Herrschaft im geschichtlichen Prozess der Naturbeherrschung dar, wobei noch das am weitesten Zurückliegende, etwa das archaische Sündenbock-Ritual, mit dem Blick auf aktuelle gesellschaftliche und politische Vorgänge analysiert wird. Die übliche fachwissenschaftliche Parzellierung in psychologische, soziologische oder historische Departements wird überwunden, den Leserinnen und Lesern aber auch keine geringe theoretische Anstrengung zugemutet. Belohnt wird man mit vielen Entdeckungen, wie zum Beispiel der befreienden Lektüre von Nietzsche als Kultur-Kritiker.

»Seit es Menschen gibt, hat der Mensch sich zu wenig gefreut: Das allein ist unsere Erbsünde!« Diesen Satz aus dem »Zarathustra« hat Erich Stöller als Motto seines Buchs gewählt, denn ausgesprochen und unausgesprochen ist seine kulturgeschichtliche Studie auf die Idee des Glücks bezogen. In einem späten Essay hat Sigmund Freud geschrieben, »die Absicht, daß der Mensch glücklich sei, ist im Plan der Schöpfung nicht enthalten«. Stöller, einer der besten Kenner der Freudschen Psychoanalyse in Österreich, macht diesen glückfeindlichen »Plan der Schöpfung« zu seinem Thema. Was Freud mit »Plan der Schöpfung« ironisch als Zwang der vorgegebenen historischen Institutionen anspricht, die jeweiligen Bedingungen von Arbeit und Herrschaft und ihre Verankerung in der Psyche des Menschen, das ist, zentraler als bei Freud, der Gegenstand von Stöllers Buch. »Ein analytisches Buch über die Entstehung von verfestigter Herrschaft von Menschen über Menschen«, hat die Zeit-Historikerin Erika Thurner in ihrer Rezension geschrieben, ein Buch auch von der »›Schuld‹, die in der Hinnahme und dem Einverständnis mit der Unterdrückung liegt«.