mai 2000

Klaus Firlei

Vom Casino-Kapitalismus zur Casino-Arbeitswelt

Der Salzburger Sozialdemokrat und Arbeitsrechtler Klaus Firlei über

Das Arbeitsrecht ist in seiner heutigen Gestalt ein wahrhaft imposantes Gebäude. Es war Pracht- und Prunkstück des Wohlfahrtsstaates der letzten Jahrzehnte und Angelpunkt der europäischen Sozialstaatsidee. Von hier aus wurde der Raubtier-Kapitalismus domestiziert und kleingezüchtet. Es hat die schier unglaubliche Leistung vollbracht, die Massen an Lohnabhängigen und ihre Familien in die Wohlstands- und Produktivitätsentwicklung einzubinden. Kein Wunder, dass auch die juristische Statur dieses Gebäudes beeindruckt. Es handelt sich um ein dichtes Netz aus Hunderten Gesetzen und Verordnungen, mehr als tausend Kollektivverträgen, Hunderttausenden von Betriebsvereinbarungen.

Seit einigen Jahren ist in der Arbeitswelt aber der Teufel los. Die sozialen Schutzgarantien der alten Arbeitsgesellschaft zerbröckeln. Sie werden von den aggressiv wütenden Megatrends des globalen Cyberkapitalismus seit gut einem Dezennium niedergefackelt. Die alte Arbeitsordnung und die mit ihr engstens verbundene Sozialordnung zerfallen, brechen ein und veröden.

Unglücklicherweise liegen die treibenden Kräfte der Entwicklung außerhalb der Reichweite von Recht, Staat und Politik. Globalisierung, neue Technologien, Knowledge- und Net-Economy, Risikogesellschaft, Individualisierung, Dematerialisierung und Entörtlichung der Wirtschaft: diese Explosion des Neuen ist für die Politik eine Nummer zu groß. Sie bewirkt einen enormen Wandel der Beschäftigungsformen. Fremdartige Gattungen von Beschäftigten verunsichern den Arbeitsmarkt.

Halbwegs gut geschützte, auf Dauer angelegte Vollzeitarbeitsverhältnisse werden durch diskontinuierliche, wechselhafte, unstetige Beschäftigungsverhältnisse ersetzt. Teilzeitarbeit und geringfügige Beschäftigung, Leiharbeit, Telearbeit, freie Dienstverträge, Werkverträge, Projektarbeit, Arbeit als Subunternehmer, kleine abhängige Selbständigentätigkeiten nehmen massiv zu. Sie werden in nicht allzu ferner Zukunft die dominierenden Formen des Arbeitens sein - in manchen Staaten sind sie es schon. An diesem Wandel der Arbeitsformen kann auch eine bessere Arbeitsmarktsituation nichts ändern. Vollbeschäftigung auf der Basis von de-luxe-Normalarbeitsverhältnissen spielt es nicht mehr. Die neue Vollbeschäftigung kann man in den USA studieren. Sie ähnelt eher der in Indien oder Brasilien. Die Lebensarbeits-Verläufe werden unstetig, unerwartete Wendungen gehören zur Normalität. Zunehmend bewegen sich Free-Rider und Free-Lancer in dieser zerklüfteten, sich ständig wandelnden Landschaft wie durch einen Dschungel: Wer sich zurücklehnt, eine Pause macht, bleibt hinten. Schnelligkeit, Flexibilität, Wachsamkeit, Ellenbogen- und Survival-Techniken zählen. Überall lauern Konkurrenten, aber auch Goldminen warten - auf einige wenige - um die nächste Ecke. Gewinn und Verlust liegen nun auch für die Arbeitenden eng beisammen. Der Casino-Kapitalismus hat einen Zwillingsbruder bekommen, die Casino-Arbeitswelt.

Warum sind Recht und Politik so ohnmächtig? Weil, schlag nach bei Marx, die Arbeit eine Ware ist. Sie wird auf Märkten gehandelt und muss von Unternehmen gekauft werden. Die Grenzen des rechtlichen Schutzes sind erreicht, wenn es für teure und unflexible Arbeit keine Nachfrage gibt. Ob aber Arbeit zu teuer, zu unflexibel, zu wenig unternehmensorientiert ist und daher durch Maschinen, Schwarzarbeit, atypische Arbeit, neue Selbständige, Billigarbeit in Indien oder was immer ersetzt wird, das bestimmen nicht Politik, Recht oder Gewerkschaften, sondern der Markt.

Es geht nicht mehr darum, was wir wollen. Es geht darum, was wir (noch) können. Auf diese Frage bleiben aber die alten Protagonisten des sozialen Schutzgedankens fast alle Antworten schuldig: Wie sollen neue Beschäftigungsformen geschützt werden, wenn kein Arbeitgeber mehr vorhanden ist, der zu diesem Schutz verpflichtet werden kann? Wie sollen Menge und Preis der neuen Arbeit kartelliert werden, wenn die Träger dieser neuen Arbeitsformen wie Unternehmer denken und handeln? Wie soll Arbeit umverteilt werden, wenn der Maßstab nicht mehr die Arbeitszeit, sondern das Ergebnis ist? Wie soll ein hochgradig differenziertes arbeitsrechtliches Schutzsystem funktionieren, wenn die Beschäftigten angesichts einer instabilen Risikogesellschaft nur eines im Sinne haben, in kurzer Zeit möglichst viel netto zu verdienen? Wie soll ein Staat, der zum Spielball der Standortkalküle international hochgradig mobiler Unternehmen geworden ist, die neue Arbeit schützen, wenn das Ausmaß an ungeschützter Arbeit zu einem entscheidenden Wettbewerbsvorteil wird?

Welches letzte Aufgebot wird sich in die Schlacht werfen, wenn sich die staatlichen Regulationspotentiale unter dem Druck von Globalisierung und Vergötzung des Wettbewerbs im Sturzflug befinden, wenn die neuen Technologien aggressive Flexibilisierungsstrategien ermöglichen, wenn neue Unternehmensformen (virtuelle Unternehmen, fraktale Fabriken, schlüpfrige Unternehmensnetzwerke, wendige Unternehmens-Amöben) mit der alten Arbeit nichts mehr anfangen können, wenn Mutationen der früheren Büroangestellten und Hackler auf arbeitsrechtlichen Schutz und Solidarität pfeifen und unbekümmert kurzfristig denken, in Wettbewerbskategorien, ganz bewusst auch selbstaus- beutend?

Die Frage, wieviel »Deregulierung« wir haben wollen, ist im Ansatz falsch gestellt. Deregulierung passiert: unerbittlich, irreversibel. Sollte man auf die Idee verfallen, den Motor dieser Entwicklung (also Vertragsfreiheit, Abschlussfreiheit, Dispositionsfreiheit der Unternehmen) so weit einzuschränken, dass alle Passagen in die neue Arbeitswelt zugestopft sind, dann bringt man mit der Wirtschaft auch den Sozialstaat um. Die neue Situation bietet neben den unbestrittenen sozialen Risiken einer Ellenbogen-, Jobhopper-, und Freelancer-Gesellschaft, in der Menschen massenhaft sozialer, mentaler und kultureller Verelendung (etwa auf Niedrigstniveau ausgehaltene Couch-Potatoes) ausgesetzt sind, auch außergewöhnliche Chancen, einige alte und neue Träume zu verwirklichen. Beispielsweise: hohe Produktivität mit einem freieren Arbeiten zu kombinieren; die längst überfällige soziale Grund- absicherung einzuführen; Wissen, Produktivität, Produktivkapital und Arbeit enger zu verbinden; die Zeitautonomie zu stärken; der Selbstverwirklichung bei der Arbeit mehr Augenmerk zu schenken; jede Form von Arbeit anzuerkennen, nicht nur die Erwerbsarbeit.

Es ist ohnehin ein Mythos, dass die alte Arbeitswelt so großartig war. Man kann ihr zwar bescheinigen, dass sie, in einem biedermeierlich-kleinbürgerlichen Sinne, gemütlich war. Ihre Hauptstärken waren Kalkulierbarkeit, Sicherheit, Planbarkeit und eine Ankoppelung der Mehrheit der Bevölkerung an den Produktivitätsfortschritt. Die andere Seite war aber, dass es sich um ein System der Ausgrenzung der Arbeit, der Entfremdung von Arbeitsinhalten und Produkten, der Degradierung der »Produktivkraft Arbeit« zum einem untertänigen Zubehör der Produktionsmittel und ihrer Dynamik handelte.

In welche Richtung könnte eine

neue Entwicklung gehen?

* Die neue Arbeitswelt bietet für viele kein ausreichendes und kontinuierliches Einkommen aus Erwerbsarbeit. Die bisherigen (beitragsfinanzierten) sozialen Sicherungen funktionieren für einen wachsenden Teil der Bevölkerung nicht mehr. Grundsicherungen sind daher die wichtigste sozialpolitische Forderung der Zeit. Dabei sollte man den aus den Erwerbsmärkten Verstoßenen aber nicht nur ein paar Geldscheine (»Bürgergeld«) in die Hand drücken. Wer kein ausreichendes Einkommen aus Erwerb hat, soll vielmehr in Nicht-Erwerbsarbeit Sinn und Anerkennung finden - und dafür selbstverständlich bezahlt werden. Für die gesellschaftliche Kohäsion und für wichtige soziale und kulturelle Ziele ist ein starker Sektor der Nichterwerbsarbeit unverzichtbar.

* Damit schlägt man zwei Fliegen mit einer Klappe: Die bisher allenfalls über (feudale) Unterhaltsansprüche alimentierte Nichterwerbsarbeit wird der Erwerbsarbeit gleichgestellt, ihre skandalöse Diskriminierung wird beendet. Kommunikative, gemeinschaftsbezogene (soziale, kulturelle, politische) Arbeit sowie Lernen werden bezahlt, aufgewertet und damit am Leben erhalten, anstatt in einem System der Totalvermarktung des gesamten Lebens und der gesamten Kultur unterzugehen.

* Damit verschwindet auch die Arbeitslosigkeit wie von Geisterhand. Man arbeitet entweder im Erwerbssektor oder, auf einem etwas bescheidenerem Niveau, im unermesslichen Nichterwerbssektor, in dem die Arbeit nicht durch Gewinnkalküle künstlich verknappt ist.

* Soziale Absicherungen, die derzeit über Arbeitskosten finanziert werden, müssen stärker auf Systeme steuerfinanzierter Sozialleistungen verlagert werden. Eine kontrollierte Deregulierung würde Luft für neue Aufgaben im Arbeitsrecht schaffen, die nur von unten her bewältigt werden können. Die Erwerbsarbeit würde billiger. Das schafft Arbeit. Das heutige Arbeitsrecht ist nämlich nicht zuletzt Opfer seiner eigenen Erfolge: Es ist so gut, dass es Arbeit verhindert.

* Auf diese Weise könnten neue Felder der Arbeitspolitik entwickelt werden: Ansprüche auf Weiterbildung und Information, die Bewältigung der immer komplexer werdenden zeitlichen Koordinierungs- und Freistellungserfordernisse im Interesse der Arbeitnehmer, Modelle für eine sinnvolle zeitliche Verzahnung von Erwerbsarbeit, Nichterwerbsarbeit, Ausbildung und Bürgerengagement, Rechte auf Entscheidungs- und Gewinnbeteiligung, auf Vermögensbildung, auf Entfaltung bei der Arbeit, auf Autonomiespielräume.

* Das kollektive Arbeitsrecht ist zu grob, zu langsam, zu wenig komplex. Die neuen schnell und flexibel agierenden Unternehmen sind aus der Perspektive der Interessen der Arbeitnehmer mit groben, flächendeckend und breit angelegten Instrumenten wie Gesetz und Kollektivvertrag nicht mehr ausreichend stark und intelligent beeinflussbar. Interessenvertretung der Arbeitnehmer sollte als eine komplexe Managementaufgabe definiert werden, die in Funktionen der Unternehmensleitung integriert ist. Die Weichen sind in Richtung auf Dezentralisierung, Ausweitung der Rechte der Betriebsräte oder anderer Formen der Interessenvertretung zu stellen.

* Die Arbeit wird ihre Potentiale in der Wissens- und Dienstleistungsökonomie nur dann optimal entfalten können, wenn sie sich als unternehmerischer Faktor definiert und mit den wirtschaftlichen Aufgaben eine Symbiose eingeht. Arbeitsrecht wird eher als ein Teil des Wirtschaftsrechts anzusehen sein. Viele soziale Funktionen des Arbeitsrechts wachsen dem Sozialrecht zu. Neue Formen der Organisation der Arbeitskraft als souveräner Produktionsfaktor müssen entwickelt werden, dafür brauchen wir einen rechtlichen Rahmen. Die Aufgabe, Dumpingwettbewerb zu verhindern, bleibt.

* Die Gewerkschaften könnten ganz neue Aufgabenfelder betreuen und damit auf der Bühne der Geschichte verbleiben - oder aber sie gefallen sich weiterhin darin, den Entwicklungen, die sie derzeit an den Rand der Gesellschaft drängen, zuzusehen. Es wäre zu wünschen, dass sie sich in den faszinierenden Prozess einer Verankerung der Arbeit im Zentrum der Wissens- und Dienstleistungsökonomie einklinken und an der Schaffung einer Tätigkeitsgesellschaft als soziokulturellem Gegengewicht zu den Stupiditäten des schalen und einfältigen Waren- und Erlebniskapitalismus mitarbeiten.

· Diese Zukunft der Arbeit liegt weder quer zu den Interessen des Kapitals, noch widerspricht sie dem Imperativ der Standortsicherung. Sie ist daher nicht ohne Realisierungs-chancen. Also doch eine Stunde der Politik.