april 2000

Thomas Neuhold

Was heißt hier »Zivilgesellschaft«?

Der Begriff ist falsch. Bleiben wir trotzdem dabei!

Der Begriff hat sich irgendwann nach dem Lichtermeer festgesetzt. Bei den Demonstrationen nach den Wahlen vom Oktober 1999 war er plötzlich in aller Munde und seit Bildung der unseligen FPÖ-ÖVP-Koalition ist sie zum Synonym für die Widerstandsbewegung geworden: »Die Zivilgesellschaft«. Spätestens mit der Demonstration der 250.000 am Heldenplatz ist diese »Zivilgesellschaft« zum politischen Faktor in Österreich geworden. Gemeinsam mit der parlamentarischen Opposition von Sozialdemo- kratInnen und Grünen tritt die Bewegung für ein offenes, europäisches, demokratisches, modernes und soziales Österreich ein. Bis dato hat sie sich auch gegen alle Vereinnahmungsversuche erfolgreich zur Wehr gesetzt.

Aber so wenig konkret wie die politischen Ziele der Widerstandsbewegung sind - vom Rücktritt des Kabinetts Haider-Schüssel, Neuwahlen und von der Rücknahme von Zwangsmaßnahmen wie etwa dem Arbeitsdienst einmal abgesehen -, so ungenau wird auch der Begriff der »Zivil- gesellschaft« verwendet. Vor allem die MarxistInnen werden dieser Tage nicht müde zu betonen, dass »die Zivilgesellschaft« etwas ganz anderes ist.

Kurz gefasst, meint die vom marxistischen Theoretiker Antonio Gramsci eingeführte »societá civile« die Summe der bürgerlichen Gesellschaft und ihrer Institutionen. Gramsci definiert die zivile Gesellschaft der Vereine, Parteien, religiösen Gruppen ... im Gegensatz zur politischen Gesellschaft - also die Staatsmacht von Justiz, Polizei, Militär... Beides zusammen - zivile und politische Gesellschaft - ergeben bürgerliche Herrschaft. Letztlich ist laut Gramsci die Zivilgesellschaft jener Teil der kapitalistischen Gesellschaften, in der die bürgerliche Demokratie und die kapitalistische Organisation der Wirtschaft hegemonial sind.

Streng genommen, haben die MarxistInnen recht, wenn sie meinen, der Begriff werde hier und jetzt falsch verwendet. Wenn die TraditionalistInnen aber gegen »die Zivilgesellschaft» und deren prominenteste Vertreter aus der »Demokratischen Offensive» polemisieren, dann handeln sie unpolitischer als Urvater Marx es ihnen erlaubt hätte.

Die marxistischen Sekten haben übersehen, dass es sich bei der Widerstandsbewegung in Österreich keineswegs um eine soziale Bewegung handelt. Die allerwenigsten der KundgebungsteilnehmerInnen gehen gegen die Auswüchse des Neoliberlismus auf die Straße. Von der KPÖ und ein paar linken Splittergruppen abgesehen will kaum jemand der tausenden DemonstrantInnen am Gesellschaftssystem grundsätzlich etwas ändern. Wäre das anders, müssten in Berlin, Paris oder London zeitgleich mindestens so viele Menschen protestieren wie in Wien.

Dem ist bekanntlich nicht so. Der Protest richtet sich weder gegen den Kapitalismus und nur zum Teil gegen dessen Auswüchse. Es handelt sich um eine reine Überbaubewegung. Am allerbesten hat das der Wiener ÖVP-Chef Bernhard Görg formuliert, der meinte, er lehne die Regierungsbeteiligung der FPÖ ab, weil diese »eine unappetitliche Politik« mache.

Viele derer, die sich gegen schwarz-blau engagieren, bedauern das Ausscheiden der Sozialdemokratie aus der Regierung keineswegs. Ein Teil der schärfsten KritikerInnen der »Koalition der schwächsten Köpfe« würde eine Mitte-Rechts-Regierung (ÖVP und ein - derzeit aber fiktiver - rechtsliberaler Partner) durchaus tolerieren. Aber eine Rechts-Rechtsaußen, eine Koalition mit antieuropäischen ExtremistInnen und mit Leuten, für welche die deutschen Neonazis Solidaritätsdemos organisieren, wollen sie nicht.

Da mag viel Moral statt Politik mitschwingen; da mag auch viel Inkonsequenz und Unschärfe in der Argumentation - »ja« zum Wirtschaftsliberal- ismus und »nein« zu den diesem innewohnenden rechten politischen Ausprägungen - dabei sein; da mag sogar ein gutes Stück Überheblichkeit der »Zivilisierten« gegenüber dem - zumindest bei Wahlen - radikalisierten rechten Plebs der ModernisierungsverliererInnen in der Luft liegen, Fakt ist, dass die Bewegung der »anständigen« ÖsterreicherInnen auch nur ein wirkliches gemeinsames Ziel kennt: Dieses lautet, sich vom »verbalen und psychischen Gewaltsystem, das Haider und seine Truppe verkörpern« (Hans Rauscher im »Standard«) weder die kollektive noch die individuelle Zukunft verbauen zu lassen.