april 1995

Mario Jandrokovic
im gespräch

»Zwei unterschiedliche Geschichten in derselben Vorstellung«

Die Amsterdamer Regisseurin Lies van de Wiel stellt einige feine Unterschiede innerhalb des vereinigten europäischen Theaterbetriebes fest

Anfang März bescherte die junge niederländische Theatermacherin Lies van de Wiel dem Salzburger Publikum ein wunderschönes Gastgeschenk. Sie inszenierte im TOI-Haus ihr Zweipersonenstück »Die singenden Beine«, eine kurzweilige Aneinanderkettung von poetischen Miniaturen - Sprechtheater, Musik, Tanz, Pantomime, Kostüme, Zeichnungen auf einer Schultafel. Das Stück, das vornehmlich in Klassenzimmern gezeigt werden wird, und die Regisseurin, die sich als Freelancerin im bunten Szenario der freien Theatertruppen Amsterdams durchschlägt - sie lassen womöglich gewisse feine Unterschiede feststellen, sei es ein verschiedenartiges Selbstverständnis des Theatermachens zwischen Österreich und Holland, seien es die Grenzen zwischen dem Erwachsenen- und dem sogenannten Kinder- und Jugendtheater.

Lies van de Wiel: »In den Niederlanden hat das Jugendtheater sicherlich gleich hohes Niveau wie das Erwachsenentheater. Es wird auch viel experimentiert - und zwar seriös experimentiert. Nicht so, daß es heißt: Ich bin kein richtiger Schauspieler, also fange ich an, Theater für Kinder zu machen. Es gibt viele professionelle Theaterleute, die gerne im Bereich Jugendtheater arbeiten. Es sind auch viele Erwachsene in den Niederlanden, die sich gerne Jugendtheater ansehen, weil es so frisch ist und weil es so angenehm ist anzusehen (lacht). Ich denke, daß es auch nicht Kindertheater in dem Sinn ist, daß es für kleine Kinder (fiepst) ist, mit einer roten Nase undsoweiter.«

Es ist gerade jener im Kindertheater nicht unübliche vorauseilend pädagogische, letztendlich verharmlosende Tonfall, von dem sich ein Stück wie »Die singenden Beine« deutlich absetzt. Daß dabei auch tragische, unter die Haut gehende Momente vorkommen - etwa die Geschichte vom Kängeruh, das getötet wird -, daran haben sich Kinder gar nicht gestoßen, sondern höchstens Erwachsene.

LvdW: »Das Stück handelt im Prinzip von Vergänglichkeit. Und für Kinder ist diese Kängeruhgeschichte eine schlimme, aber auch normale Geschichte. Kinder können auch die furchtbarsten Geschichten mit einer ganz normalen Stimme erzählen. Es gibt viele Erwachsene, die mit einem Stück wie »Die singenden Beine« auch deshalb Schwierigkeiten haben, weil sie nicht so wie Kinder einfach davon ausgehen: Aha, alles ist möglich; das ist das eine Bild, aber es kann auch ganz etwas anderes sein. Da gibt es eine Erwachseneninterpretation und eine Kinderinterpretation, und das sind zwei unterschiedliche Geschichten in derselben Vorstellung.«

Zweifellos reagieren Kinder schon deshalb anders als Erwachsene, weil sie das Theater nicht gleich in die Koordinaten der Sinnhaftigkeit einsetzen - der Sinn kann ruhig auch offen bleiben. Daß die ausgestopfte Möwe, die im Stück vorkam, womöglich an Tschechows »Drei Schwestern« erinnern könnte, bereichert schließlich nicht unbedingt ein sinnliches Theatererlebnis. Schauspielkunst, die (auch) Kindern Freude bereitet, passiert dabei in einem Feld, das nicht besetzt ist von den Altlasten des Großen Theaters. Seit nunmehr zehn-fünfzehn Jahren nutzen zahlreiche niederländische Theatermacher - auch berühmte Profis - die Gunst der Stunde, um in einem Bereich zu arbeiten, in dem neue Theatersprachen gesucht und auch gefunden werden. Weit abseits des herkömmlichen Sprechtheaters werden mit bescheidenen Mitteln und viel Phantasie neue Ausdrucksformen entdeckt.

Die Vielzahl von Nomaden in diesem Theatermilieu arbeitet meist in offenen Gruppen, die nur für Einzelprojekte Subventionen beziehen. Diese fluktuierende Szene operiert viel weniger als in Österreich mit fixen Ensembles oder Spielstätten - Theater wird nicht so sehr über die Institution definiert.

LvdW: »Es gibt natürlich auch Gruppen, die Institutionen sind, aber es gibt so viele freie Gruppen, sodaß da etwas mehr Balance ist im Vergleich mit Österreich. So passieren auch ohne das große Geld viele Dinge. Bei den Subventionen gibt es eben auch Möglichkeiten für kleine Bühnen. Es gibt natürlich auch viele kleinere Gruppen, die bescheiden angefangen haben und nunmehr sicher sind, daß sie nächstes Jahr Geld bekommen. Aber man muß sehr lange arbeiten, damit man von der Arbeit auch leben kann.«

Ein kleiner Unterschied bei der niederländischen Off-Szene mag auch sein, daß diese kleinen Theatergruppen auf unvergleichlich größere Akzeptanz quer durch die Bevölkerungsschichten stoßen. Die Auftritte der Ensembles in den offenen Kulturhäusern des Landes laufen auch kaum mit den in unseren Breiten üblichen Berührungsängsten zwischen einem in sich geschlossenen Ghettodiskurs und dem »durchschnittlichen« Träger der öffentlichen Meinung ab. Theater als ein kommunikativer Ort, der Schwellenängste nicht mithilfe kunstvoll einladender repräsentativer Portale abzubauen sucht, und die Arbeit auf der Bühne als ein Ereignis des Sich-miteinander-Unterhaltens, das nichts zu tun haben will mit dem Kult des unverstandenen Genies - jenem Kult, der in Österreich auf beiden Seiten des runden Tisches der Kulturpolitik gepflegt wird, als verbindendes Moment in der Durchdringung von Kultur und Staat.

LvdW: »Die Leute, die in den Niederlanden entscheiden, wer nun Geld bekommt, um etwas zu machen, das sind Leute, die auch selbst im Theaterbereich arbeiten, und das ist eine andere Politik als in Österreich. Darunter gibt es auch viele, die versuchen, jungen Leuten, neuen Theatermachern eine Chance zu geben. Es gibt daher in den Niederlanden viele Möglichkeiten, aber es gibt auch so viele Theatermacher, daß es schwierig ist, einen fixen Platz zu bekommen. Aber vielleicht ist es auch nicht so wichtig, einen fixen Status zu haben.«

Auch in den Niederlanden ist der Status von Theaterleuten, von Kulturschaffenden im Allgemeinen, allzu häufig einer am Rande des großen Napfes. Doch es gehört viel stärker zum Selbstverständnis der Gesellschaft, daß eben auch Kultur »normale« Arbeit und eine eigene Lebensform ist.

LvdW: »Es ist auch heute noch für viele Theaterleute normal, mit Arbeitslosengeld zu arbeiten. Aber es gibt immer mehr Arbeitslose, sodaß man das von Seiten der Politik ändern will. Dann müßte aber auch die Subventionslage verändert werden. Ich würde ja auch gerne einen fixen Lohn bekommen, aber ich glaube, daß es bei mir nie passieren wird, daß ich zwölf Monate im Jahr von meiner Arbeit leben kann.«