juni 1995

Didi Neidhart
gehört

Klingende Schatztruhe

Gebündelte Energien, verknotete Intensitäten, großartiger Lärm, glitzernde Songperlen - Popmusik ist immer dann am spannendsten, wenn sich auf möglichst vielen Ebenen möglichst viel ereignet, sodaß man gar nicht mehr weiß, wo einem der Kopf samt Ohrwascheln steht, weil soviel Knistern in der Luft liegt. Es reiben sich die Stile und wir reiben uns die Hände, bis die Funken fliegen.

Wer all dies und mehr auf einer CD komprimiert haben will, greife schleunigst zum Funkenflug-Meisterwerk »Ball Hog Or Tugboart?« von MIKE WATT (Sony). Watt, schon mit den Bands Minutemen und fIREHOSE eine Schlüsselfigur und einflußreicher Impulsgeber des US-Undergrounds, steigt hier mit einer illustren Bande von 50 Musikern und Musikerinnen in einen akustischen Boxring, bei dem sich nach jeder Runde die Richtung ändert. Blues, Punk, Free-Form-Improvisationen, psychedelische Funk-Freak-Outs und knackfrische Songs. Musik ohne Ablaufdatum.

In einem anderen Sinne disparat ist das Hamburger Trio TOCOTRONIC. Die gerne als nasenbohrende, kleine Rotzlöffelbrüder von Blumfeld bezeichnete Band sägt sich auf »Digital Ist Besser« (RTD/Echo) mit schroff-rostigem Gitarrensound (Neil Young in Alaska) durch die Gehirnzellen und beschert uns dabei Texte, die klingen, als wären sie spät nachts in gelangweilt-angefressener Stimmung entstanden (wenn sich das reale Leben gleichzeitig verflüchtigt und als »Scheiße« bündelt). Genialer Pop-Lärm, ideal für strategische Stubenhocker und Leute, die ihre Stamm-Beiseln als verlängertes Wohn- zimmer bezeichnen. Übrigens werden Tocotronic im Oktober in der Arge zu hören sein.

Wir bleiben weiter im nächtlichen Ambiente, wechseln aber die Lokalität, denn was das Innsbrucker Duo PLAY THE TRACKS OF (Frenk Lebel und Werner Möbius) mit seiner CD »Beautycase« (Trost) abgeliefert hat, schreit regelrecht nach rotem Plüsch, goldenen Glitter-Flitter-Vorhängen und gedämpfter Beleuchtung. Schlicht gesagt, sind PTTO die beste heimische POP-Band, die nicht nur kleine, ob ihrer Qualitäten (goldenes Gespür für Melodien und eine von Gott geküßte Stimme) regelrecht paralysierende Perlen von Songs im Gepäck hat (bei Nummern wie »Everybody« und »World Without« kann man wirklich nur noch mit offenem Mund zuhören), sondern auch POP mit all seinen Möglichkeiten begreift (das echte Falsche, statt dem falschen Echten, Kitsch und Avantgarde nebeneinander, die großen Gefühle, Sinn für Dramatik). Da ist kein Pet Shop Boys-Vergleich, kein Verweis auf David Bowie/T.Rex zu hoch gegriffen. Und den bekannten Ösi-Minderwertigkeitskomplex in Sachen Pop-Musik hat die Band auch nicht, sind PTTO doch auch gern gesehene Gäste in kleinen britischen Clubs. Rave On & Party!