juni 1995

Birgit Feusthuber
gelesen

Günther Stocker, Ein rebellisches Fossil

Die fiktionale Literatur im Zeitalter der modernen Kommunikationstechnologien Alano: Aachen 1994

Heute schon channel-gehoppt, mit dem Walk-man durch die Stadt geswingt und den bösen Feind am Bildschirm abgeschossen? Gratulation, Sie befinden sich auf der Höhe der kommunikationstechnologischen Zeit! Das Netz wird - wir wissen es - engmaschiger, unmerklich fast, doch effektiv:

In vermeintlich selbstbestimmter Form springen wir in den TV-Programmen herum, scheinbar individuell zerhacken wir die televisuellen Fluten (»Ich sehe mir kein bestimmtes Programm mehr an, ich sehe fern«), und die Auswahl der CD für den Discman suggeriert Freiheit, die letztendlich eine des Kalküls der Unterhaltungsindustrie ist. Wir hören und sehen in Fetzen, Ausschnitten, Zerstückelungen, unser Gehirn arbeitet auf Hochtouren, um immer schneller zu sieben, zu filtern, zu verdrängen. Schleichend ändert sich unsere Wahrnehmungsweise, unser Zeitempfinden. Wenn Medienmaschinen eine nicht mehr nachzuvollziehende Informationsmenge in Sekunden speichern und weiterleiten können, dominiert die Gleichzeitigkeit, der Augenblick: »Die Zeit der Geschichte löst sich auf. Die Trias von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft wird von der Ausdehnung der Unmittelbarkeit im elektronischen Netz überlagert«. Günther Stocker zeichnet in seinem Buch die Umbrüche nach, die sich durch den Wandel der Kommunikationsverhältnisse in den letzten Jahren vollzogen haben bzw. vollziehen. Mit den neuen Technologien werden wir mit Bilderströmen und Reizen konfrontiert, die die Schrift zunehmend verdrängen. Der »Untergang des Schreibens« (Vilém Flusser), der vermeintliche Tod der Literatur wird beklagt. Günther Stocker fragt zu Recht, was »sich von uns mit der Schrift verabschieden würde«. Denn mit der Schrift erfolgte die Ablöse eines mythisch-archaischen Denkens, das überging in eine zeitliche Ordnung von Erfahrung, mit der historisches Bewußtsein erst ermöglicht wurde. Die Linearität von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bildet die Grundlage unseres abendländischen Denkens. Wohin uns dieses »alphabetische Denken« geführt hat, ist bekannt. Doch Stocker stimmt nicht ein in den Kanon derer, die den Zusammenbruch herkömmlicher politischer Strukturen aufgrund der Digitalisierung unserer Lebenszusammenhänge beklagen: »... vielleicht hindert uns nur unsere Verfangenheit im Schrift-Universum daran, die Chancen einer anderen Wahrnehmungsweise zu erkennen«. Freilich, die Hoffnung, im elektronischen Netzwerk könnten sich demokratische Nischen auftun, ist als marginal einzuschätzen, das »High-Tech-Biedermeier« scheint die realistischere Variante zu sein. Fiktionale Literatur ( fiktionale Texte unabhängig von ihrem Kunstcharakter) behält vorerst noch ihre Widerständigkeit gegen die Beschleunigung der Maschinenwelt. Wer ein Buch liest, taucht in einen anderen, »humanen Rhythmus« ein. Im Fall von Stockers Buch muß man sich zuerst durch den üblichen Theorie- und Definitionswust wühlen, um zu den spannenden Kapiteln über die virtuellen Realitäten samt Konsequenzen vorzustoßen. Stocker möchte die Literatur vor den »aktuellen technisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen« nicht »bewahren oder gar retten«, wiewohl die Sympathie für das geschriebene Wort bei ihm immer spürbar bleibt. Und am Ende steht der vorsichtige Satz: »Vielleicht müssen wir von Grund auf neu denken lernen, um in der zukünftigen Welt noch einen Platz zu finden«. Heute schon in einem Buch gelesen? Wer sich einen Überblick über die neue Medien-Welt verschaffen möchte, findet in dieser Arbeit wichtige Denkanregungen und theoretische Ansätze, aufbereitet in essayistisch-ansprechender Form.