august 1995

GastautorIn
zu gast

Puschkinskaja Desjat

Das Underground-Kulturzentrum der künstlichsten Stadt der Welt tourte durch Österreich: Die Puschkinskaja Desjat in St. Petersburg, Herbergsstätte und teils auch Wohnort für über 100 Kulturschaffende; der Wert des Hauses in der Puschkinskaja Ulica 10 wird auf zehn Millonen US-Dollar bemessen. Im Gespräch zur Eröffnung der Langen Nacht der Petersburger Avantgarde konnte es von demher nicht nur um Künstlerisches, Ideelles und Theoretisches gehen. Es war auch von gebrochenen Politikerzusagen, auf Eis gelegtem Mietvertrag, Gerichtsprozessen und regelrecht kriminellem Vorgehen einer ineffizienten, mafiös unterminierten Gesetzgebung und Exekutive die Rede.

Anders als die Kulturstätten in Wien, Linz, Salzburg und Innsbruck, die von den Petersburger MalerInnen, Fotografen, Musikern, TheoretikerInnen und Theatermachern besucht wurden, kämpfen diese Kulturschaffenden nicht um die Erhaltung städtischer oder staatlicher Subventionen. Diese sind ihnen auch nach der Zeit ihres Untergrunddaseins nicht zugedacht, doch wäre es zumindest anachronistisch, wenn nicht unbefriedigend, einer Besetztes-Haus-Romantik zu verfallen.

Gerade die bastellustigen beiden Pyromännchen der Theatergruppe ACHE ließen in ihrem wohltuend gesten- und pathoskargen Spiel kaum Verdacht auf Streß der Orientierungslosigkeit aufkommen: Das postnarrative Heldenleben wurde mittels kerzentragenden, flämm-chenspeienden und feuerwerkchenspritzenden Objekten nicht nur beleuchtet, sondern entflammte sich mitunter zu kleineren Flächenbränden am Schauspielerkostüm. Die ehemals exotischen Helden des Untergrunds, allzuoft unreflektierterweise als »Avantgardisten« kategorisiert, traten an die irritierend blitzlichtartige Helle des post-sozial- istischen Daseins. Manches Gezeigte wird wohl auch trotz fehlender Rahmenbedingungen von Verbot, Zensur und Repression nicht bedeutungslos werden, so zum Beispiel Jufits nekrorealistische bewegte Bildwelten. Als Privattheoretiker der Nekrorealisten bekanntgeworden, leistet Viktor Masin mit der kulturphilosophischen Zeitschrift Kabinet akribische philosophische Kleinarbeit mit besonders liebevoll-manischer Berücksichtigung des Psychosomatischen und Bioenergetischen unseres Denkens und Daseins. Die Puschkinskaja 10 dient dem Kabinet als Redaktionsraum. Ihre Depressionen, Delirien und Ideen kultivieren Masin & Co außerhalb der Mauern des Hauses in der Puschkinstraße.

Brigitte Obermayr