september 1995

Harald Friedl

Das engste Dorf in Salzburg Stadt (Teil 1)

Im Stadtzentrum von Salzburg gibt es eine Gegend, in der im öffentlichen Raum noch so richtig gelebt wird. Sie ist die Antithese zu den von Tourismus und Yuppies gestreßten Zonen: Die Steingasse.

Im Stadtzentrum von Salzburg gibt es eine Gegend, in der im öffentlichen Raum noch so richtig gelebt wird. Sie ist die Antithese zu den von Tourismus und Yuppies gestreßten Zonen: die Steingasse.

Angelehnt an den Kapuzinerberg, 603 Meter lang, 63 Häuser mit Adresse Steingasse; 400 behördlich gemeldete Menschen, davon 201 weiblich, 199 männlich; sozial durchmischt; hoher AusländerInnenanteil; schwere Mauern auf festem Fundament; Mieten zwischen 2500.- für ein Studentenzimmer und 30.000.- für eine Wohnung mit Dachterrasse.

Im Sommer ist sie die kühlste Gasse und im Winter die wärmste, wegen des Felsens, der konstant 15 Grad hat. Keine andere im Zentrum hat so viel Patina angelegt. Es herrscht ein gewisser Schlendrian. Und so manche(r) PassantIn hat, mit H.C. Artmann gesprochen, weithin sichtbar »den Knopf einer dezenten Einsamkeit in die Krawatte geknüpft«.

Irolancholie

Die Haltung, die allerorts fühlbar ist: eine Fusion aus Melancholie und Ironie. Geschützt gegen die Verkehrsströme der Imbergstraße und der Staatsbrücke gehört sie fast ganz den FußgängerInnen und RadfahrerInnen. Das war nicht immer so.

Antiquitätenhändler Ferdinand Wallersdorfer erinnert sich: Sein vollgeräumter, schöner Laden war früher ein Lebensmittelgeschäft mit Trafik gewesen. Als er ihn 1969 übernahm, befanden sich in näherer Umgebung noch 15 andere Geschäfte. Keines ist übrig geblieben, denn die Stadt hat die Steingasse seiner Meinung nach vernachlässigt. »Sie wird nirgends erwähnt, es gehen keine Fremdenführungen durch, und wenn eine Kundschaft mit dem Auto reinfährt, wird sie gestraft.« Vor 20 Jahren sind die Deutschen noch hereingefahren und haben »gekauft, was geht«.

Wie die meisten Kaufleute hier hat auch er selbst keine Ausnahmegenehmigung, um mit dem Auto in die Steingasse zu fahren. Er hat damals »beim Stadtrat Masopust auf den Tisch gehaut« deswegen, und auch mit Stadtrat Padutsch kann man da nicht reden. Mittlerweile hat er zwei Herzinfarkte gehabt: »I reg mi nimma auf!«

Was ihm an der Steingasse besonders gefällt? »Daß viel Tradition hier ist und daß der moderne Wirbel nicht hereinkommt. Außerdem sind die Leute angenehm und es kennt jeder jeden. Man ist mit dem Großteil per Du.«

Keine Dr. Jeckylls, keine Mr. Hydes

Eng ist es schon in der Steingasse. Viel Chancen, heikle Privatangelegenheiten voreinander zu verbergen, gibt es nicht. Die beste Methode, den Klatsch einigermaßen unter Kontrolle zu haben: die Sprache selbst darauf bringen, die Geschichte für den Markt so vorbereiten, daß selbst in der x-ten Variation des Themas die ironische Schlagseite noch erhalten bleibt.

Landesjurist Franz Wasner grinst: »Die Steingasse war schon immer das Gegenstück im hochheiligen Salzburg. In der linken Altstadt waren immer die Mächtigen, in der rechten die Aussätzigen im Pestspital.« Und jetzt die Bordelle.

Die Leute hier standen »den moralfreien Beschäftigungen immer schon offener gegenüber. Dafür erspart man sich eine Menge Karriere, weil man weiß, daß man diskreditierbar ist«. Für ihn ist Salzburg »ein selten unerotisches Pflaster. Nur in der Steingasse ist es heiß. Und ich fühle die Verpflichtung, daß dieser Ruf aufrecht zu erhalten ist.«

Für »Pubcrawler« gibt es besonders viele Möglichkeiten. Die Gasse gibt die Richtung an, und es gibt keinen Anlaß, vom Weg abzuweichen. Obwohl nächtlich viele hundert Leute die 11 Lokale der Gasse frequentieren, scheinen sie großteils die passenden »BarhockerInnen« aufzusuchen. Wie viele Generationen von Studierenden durch das Andreas Hofer alkoholisch auch initiiert worden sein mögen, wie viele hedonistische Outings Homosexueller die »Drulla« ermöglicht, wie viele Tequilas im »Pepe Gonzales« den Gurgelbach hinunter fließen - die Steingasse gehört vorwiegend ihren BewohnerInnen, was in die Schanigärten nachts eine besondere kommunikative Qualität trägt.

In die »Shrimps« etwa! Die Tische sind vor dem Lokal an die Wand gedrängt, und dennoch muß man nicht selten die Beine einziehen, um sie der Spurweite der Taxireifen zu entziehen. Den besten Wein gibt es hier und gute Beislmusik. Will man gut essen, diskutieren, unter Menschen seine Ruhe haben oder einfach aus exponierter Position den Blick streunen lassen, ist man hier am richtigen Ort. Das Teilstück vor der »Shrimps« ist der Laufsteg der Gasse. Viele Grüße und flapsige Bemerkungen kreuzen sie. Und so mancher Mann (nur aus männlicher Perspektive vermag ich zu erzählen) genießt das »Girl from Ipanema«-Feeling: »Tall and tender, young and lovely the girl from Ipanema goes walking ...«.

Besonders für InhaberInnen zu enger Wohnungen ist die Gasse ein erweiterter Privatraum. Franz Wasner dehnt diesen noch aus: »Wenn ich einen großen Garten brauche, dann steig ich auf den Kapuzi-nerberg.« Seit drei Jahren lebt Fashion-Spezialistin Ursula in der Steingasse und sie bedauert sehr, aus der Steingasse ausziehen zu müssen. Denn hier trifft sie wenige Schritte von der Wohnung entfernt Freunde und Bekannte. »Sie ist für mich wie eine Familie, und bei der »Ria« ist der Dorfplatz.«

Piccolo Trieste

Wenn die »Shrimps« das eine Auge der Steingasse ist, dann ist »Ria« Maria Leitls »Piccolo Trieste« das andere. Und das Mundwerk der Gasse dazu. Am größten Gartentisch der Gasse blüht die Kunst des Alltagskommentars.

Das »Piccolo Trieste« ist der zentrumsnaheste Anachronismus im herrschenden Salzburgbild: winzig, einfach, sympathisch, direkt. Als Frau Ria vor 28 Jahren das Lokal übernahm, betrug die Tageslosung magere 160 Schilling. »Ich liebe sie einfach, diese kleinen Gassen, ich wollte nie was Größeres haben.« Eine Triestiner Werftbesitzersfamilie hat es eröffnet, daher der Name. Häufig kommen italienische TouristInnen rein, die meinen, in Landessprache bestellen oder nach dem Weg fragen zu können. Frau Ria sagt dann nur: »Chef nix hier!«.

Während des Gesprächs kleine Zeichen eines liebevollen Umgangs: man nimmt Anteil an den neuen Leberwerten eines Tischnachbarn, ein junger Mann krault einer älteren Dame den verspannten Rücken. Ein neuer Gast, ein Kuß, und Frau Ria summt »Oh, my darling ...«. Andere stimmen ein. Das musikalische Thema wird für die nächsten Minuten zur gesummten standing phrase.

Gegenüber, vor »Das Kino«, herrscht der im Sommer häufige Fahrradsalat. Ein roter VW kurvt in den Flaschenhals der Gasse ab Haus Nr. 14, touchiert ein Vorder-Rad und löst eine Kettenreaktion aus. Kinochef Michael Bilic stellt die sieben gefallenen, als wäre er das so gewöhnt, wieder auf.

No Bizz is like Small Bizz

Die Gastlokale einmal ausgenommen, unterliegen hier alle Läden einem gemeinsamen Parameter: die Steingasse liegt zentral und doch abgelegen. Bernhard Voloder, Inhaber des gleichnamigen Teppich-und Textilkunst-Ladens mit Stücken zum Preis von 10.000.- bis 70.000.- Schilling, bringt es auf den Punkt: »Wenn man ein Geschäft in Lauflage braucht, ist man hier fehl am Platz. Man muß schon ein ganz spezielles Angebot haben, um zu überleben.«

Erika van Gorkom betreibt die Paracelsus Buchhandlung. Robert Jungk, zu Lebzeiten selbst Steingassenbewohner, war ein Fan ihres interessanten Ladens mit gebundenen, alternativen Zugängen zu den Fachgebieten Ökologie, Religion, Esoterik, Psychologie und Philosophie. Frau Gorkom sieht in der Steingasse eine krasse Diskrepanz zwischen Tagleben und Nachtleben: »Untertags sind wir sehr spirituell und in der Nacht sehr profan - mit den ganzen Lokalen und den Bordellen.«

Apropos Robert Jungk: als dieser für die Bundespräsidentschaft kandidierte, betrieb Franz Wasner Nachbarschaftshilfe. »Wenigstens die Leute in der Steingasse sollten mehrheitlich den Jungk wählen.« Also ist er auch in die »Hurenhäuser« gegangen, um dort Werbung für ihn zu machen. Umsonst. Die Frauen in der »Osteria« und im »Maison de Plaisir« waren nicht in Österreich wahlberechtigt, sondern in Santo Domingo.

Teil zwei: Über schwitzende Felsen, geträumte Tote, reale Liebe, himmlische und industrielle Musiker, Kleinstadtgauner, eine in Mozart getauchte Gasse und Antipasti. Im nächsten »kunstfehler«!