september 1995

GastautorIn

Country und Western

Über Leute, die von daheim kommen und solche, die dorthin zurückwollen. Musik zwischen Aufbruch und Aufgabe.

Anläßlich der heuer erstmals veranstalteten Wiener Musikmesse Sounds Fair sollten bei einem transatlantisch besetzten Symposium auch jene Antriebsmotive transparent gemacht werden, die den Pop erst auf Touren kommen lassen: UTOPIA, die Vision eines möglichen Auswegs aus der Realität, das »Bigger than life«, schließlich der nicht nur von Jim Morrison und den Doors in den 60er Jahren beschworene »Durchbruch zur anderen Seite«; besitzen sie in der stilistischen und industriell ausgebeuteten Tristesse und Beliebigkeit der 90er Jahre überhaupt noch Relevanz?

Lesen Sie den Symposiumsbeitrag von Christian Schachinger (Der Standard, Wien).

»Let’s take some drugs and drive around«, das US-Zeitlupen-Country-Trio The Setters befindet sich mit seinem Song genau in jenem Spannungsbereich, der Country und Western festmacht.

Denn der im gleichnamigen Song beschriebene Aufbruch zu einem erhofften, besseren »Dort«, das hier mit »Western« betitelt wurde (und sei es auch nur das ziellose, mit Bierdosen und Joints bewaffnete Cruisen im Auto), verweist genau auf jene Situation, die einen Großteil von jeder (funktionierenden) Popmusik kennzeichnet: Das sogenannte »Hier«, das Element des »Country«, ist immer unerträglich, der Ausbruch aus diesem (und sei er nur für einige betörende Stunden, einige Teenager-Jahre, oder eben jenen Zeitraum, der zwischen jugendlichem Aufbruch und der Selbstaufgabe des sogenannten Erwachsenendaseins liegt), der Ausbruch aus der eigenen Befindlichkeit, ist das vordringlichste Ziel des Pop: Danach verkommt ein Gutteil von uns ohnehin zu jenen von den Setters besungenen »bums«, die am Anfang noch jeder Adoleszenz mit Recht zum natürlichen Feind erklärt werden. Daß man nach so einer Nacht im Auto wieder nach Hause zurückkehrt, soll hier keinen Widerspruch darstellen. Musik als bloßer seelischer Beistand für alle möglichen Lebenssituationen oder als eskapistisches Unterhaltungsprogramm ist und war ohnehin schon immer die Regel.

Wofür aber soll dieser existentialistische Notnagel eines UTOPIA dann gut sein? Vielleicht nur als mögliche Untermauerung jener Vorstellung, daß es eben theoretisch so etwas wie das »Andere« im »Dort« geben könnte. Daß niemand zwar genau sagen kann, um was es sich dabei handelt, daß der Aufbruch dorthin aber zumindest als Versuch lohnen könnte. Alles andere als diese Forderung nach dem »Mehr« im »Dort« wäre schlicht zu wenig des Guten.

Pop muß mehr einfordern, als er zu leisten imstande ist. Pop muß innerlich berühren, muß verunsichern und die Sehnsucht nicht etwa durch die Beschwörung derselben stillen, sondern das Verlangen nach einem besseren Seinszustand erst wecken und beständig am Leben erhalten. Denn wer nicht mehr vom Leben verlangt als den Kompromiß oder das Sicheinfinden in das Hier, der hat im Pop nichts verloren, und sich dort eingefunden, wo man nie sein sollte, zu Hause.

Es gibt nichts Schlimmeres als eine Musik, die zu sich selber gefunden hat. Es geht, so UTOPIA überhaupt einen Sinn machen soll, um beständige Rastlosigkeit und Unbehaustheit. Jedes auch noch so kleine Sicheinfinden in Ist-Zustände führt zu »Country«, zu Hirntod und Korrosion, führt zum Lamentieren über das Nachhausezurückkehren aus dem mythologischen »Western«, etwa in Soul Asylums niederträchtiger Familienzu- sammenführungs-Hymne »Runaway Train«.

Am Anfang muß die alles niederreißende Behauptung der möglichen Existenz eines UTOPIA stehen. Und die Verheißung, daß, wenn man vielleicht auch nie dort ankommen wird, es sich immerhin lohnt, nach dorthin aufzubrechen. Relativieren kann und muß man dann im Nachhinein ohnehin zur Genüge.

UTOPIA zieht sich in den Songs der Pop-Geschichte - um nicht nur zum tausendstenmal Robert Johnson oder Hank Williams zu bemühen - vom »Promised Land« des Rhythm’n’ Blues, dem man beispielsweise in klischeeverdichteten »Pink Cadillacs« oder auf »Freight Trains« nachjagt, über zigtausende »Born to Run«-Songs der mittleren Rockperiode herauf bis zu den »Weltraum«-Videos der Techno-Generation: »Welcome to tomorrow«.

Daß sich dabei über die Jahre eine Inflation eingestellt hat beziehungsweise dem Pop schon seit der Entdeckung des Teenagers als Marktfaktor im Amerika der 50er ordentlich die Zähne gezogen worden sind, ist Fakt. Daß er mit Übermittlungsmedien wie MTV, mit seinem deutschen Ableger VIVA, daß er mit Oldieskanälen wie VH1 sogar die traditionellen Gegner des Pop, die sogenannte Generation der Altvorderen, bedient und dadurch endgültig beliebig geworden ist, muß ebenfalls hingenommen werden.

Andererseits: Durch eben dieses Charakteristikum, daß nämlich alles, was den eigenen Bedürfnissen, der eigenen Person entgegenkommt, in den Pop hineingelesen werden kann, kann sich auch so etwas wie Verbindlichkeit einstellen.

Zwar verheißt Musik scheinbar schon lange nichts mehr. Zwar kreisen deren Inhalte um nichts anderes mehr als um die Bestätigung eines imaginierten Teenager-Landes samt dazugehöriger industrieller Vermarktung, zwar werden als schlimmste Ausformungen derselben spezielle Automodelle wie Rolling-Stones-Mobile inklusive aktueller Tonträger und dazugereichter Wetlttournee als alles definierende Vermarktungstechniken gegen UTOPIA aufgebracht. Zwar bricht man mit dem Stones-Mobile eben nicht mehr ins »Dort« auf. Dafür aber kommt man am Abend, gesichert durch den Aufprallschutz des Air-Bag sicher vom Arbeitsplatz nach Hause und darf sich als Teil einer, wenn auch trostlosen Gesellschaft fühlen, die es sich im »Hier« so gut und so traumlos wie nur möglich eingerichtet hat. Es geht also heute eben nicht mehr um das Postulieren und Verzeichnen eines »Welcome to tomorrow«, sondern um das monströse »Welcome to the machine«.

Polemisch formuliert: Ist UTOPIA im bösen Videoclip-Zeitalter endgültig abgekratzt und wird hier einer Generation, die sich ihre jeweiligen Nischen von Alter-Sack-Musik über HipHop, Hardcore, Crossover bis zu Grunge oder Techno, House Ambient oder Neo-Folk ausgesucht hat, nur mehr der eigene Bauch gepinselt, und versichert man sich im jeweiligen Marktsegment nur mehr seiner jeweiligen kollektiven Einzigartigkeit?

Nun, ganz so schlimm kann es nicht sein. Wenn auch Kurt Cobains »Here we are now, entertain us!«, die grundsätzlich passive bis mieselsüchtige Selbstreferentialität und visionslose Historisierung des nicht zu Unrecht totgesagten Rock der letzten Jahre oft unerträglich geworden ist und wir uns weit entfernt vom einst eingeforderten »Search and Destroy« befinden. Wenn auch abgesehen von Nabelbeschau und hermeneutisch abgeschotteten Stilen nicht mehr viel übriggeblieben ist, man mittlerweile mit Green Day oder Offspring gar den »neuen Punk« ausruft, um sich aus dieser ausweglosen Situation durch eine Revolte aus dritter Hand noch irgendwie herauszuschwindeln: Gerade in den Grenzbereichen der diversen, an ihren Rändern ausfransenden Stile tut sich wieder einiges, das zumindest Anlaß zur Hoffnung gibt, daß UTOPIA doch noch nicht als Untote durch unser »Hier« wandelt.

Weil es nach all der Zersplitterung in Mini-Szenen gegenwärtig nur darum gehen kann, die verkrusteten Strukturen sich separierender Genres aufzuweichen, soll darum eines gefordert oder erwartet werden: Das herrschende Anything Goes des aktuellen Stilwirrwarrs muß und wird sich wie schon einmal in den frühen 80er Jahren zuspitzen, die Phase der Beliebigkeit zu jener faden, gleichförmigen Soundsuppe verkommen, die uns jetzt schon von VIVA entgegenschallt. Danach wäre es wieder einmal Zeit für eine kleine, feine Teenie-Revolte. Musik muß schließlich vital, explosiv, emotionell, energetisch, aufbegehrend, verwirrend und voller unbegründeter Lebensfreude sein!

Nur in der Erfüllung dieser Vorgaben kann man Forderungen aufstellen, die ein UTOPIA nicht nur in der Freizeitindustrie verankert und irgendwelchen fragwürdigen Traditionen verpflichtet möglich erscheinen lassen (»Here we are now, entertain us!«). Es geht darum, dieses Utopia, dieses Sich-auf-den-Weg-machen zur »anderen Seite« - oder wie immer man es nun nennen will - wieder notwenig und plausibel erscheinen zu lassen.

»An adrenal mental man-toolbox explodes in music, creates utopia. Let’s burn your broken heart, set our sites on sites not yet set.« (Sonic Youth: »Tuff Gnarl«)

Christian Schachinger