september 1995

GastautorIn

Machtverhältnisse unter dem Vergrößerungsglas

Claudia Schennach - als Patientenanwältin an der Landesnervenklinik Salzburg wiederholt mit sexuellem Mißbrauch konfrontiert - über Mißbrauch, Familie und Kapitalverbrechen.

Nachgewiesen ist, daß sexueller Mißbrauch von vorwiegend weiblichen Kindern und Jugendlichen keine Seltenheit ist und neben dem körperlichen und seelischen Leid schwere psychische Folgeschäden verursacht. Faktum ist auch, daß ein Rechtsschutz der Betroffenen per Gesetz vorgesehen ist. Die Mehrheit der österreichischen Bevölkerung wird zudem der Ansicht sein, daß es sich bei sexuellem Mißbrauch in der Familie um ein kapitales Verbrechen handelt. Dem steht gegenüber, daß bestehende rechtliche Instrumentarien kaum genutzt werden und strafrechtliche Verurteilungen vergleichsweise selten erfolgen.

Woran liegt es, daß gerade bei diesem Verbrechen, bei dieser massiven Grundrechtsverletzung, die dafür vorgesehenen Ahndungsmechanismen so offenkundig nicht greifen und das Schweigen und Verstummen dem Offenbaren und Anklagen vorgezogen werden?

Zunächst sind gesellschaftliche Machtverhältnisse wie durch ein Vergrößerungsglas abgebildet: Auf Opferseite trifft es die mehrfach schwächsten Gesellschaftsmitglieder, meist weibliche Kinder und Jugendliche, rechtlich und ökonomisch abhängig vom meist erwachsenen Mißbraucher, besonders brutal mit patriarchaler Macht konfrontiert. Auf Täterseite handelt es sich um die mehrfach stärksten Gesellschaftsmitglieder, meist männliche Erwachsene, in einer in der patriarchalen Gesellschaft bevorzugten und ökonomisch unabhängigen Position.

Es ist unangenehm, besonders für Männer, zu hören, daß sexueller Mißbrauch Ausdruck vorwiegend männlicher Gewalt gegen abhängige, meist weibliche Kinder ist. Mächtige - hier eben Männer - haben keinen Grund, die bestehenden Verhältnisse, die ihnen die Machtposition ermöglichen, zu verändern. Im Gegenteil: Es ist natürlich bequemer, sich beispielsweise in Form von Therapien rührend um die Schwächeren zu kümmern, als die Stärkeren zur Rechenschaft zu ziehen. So bleibt die patriarchale Ordnung unangetastet.

Weiters gilt die Institution Familie noch immer als letzte Bastion der Geborgenheit und Sicherheit für den Einzelnen. Durch Mißbrauch in der Familie - Inzest also - wird dies im Einzelfall zerstört und gesellschaftlich betrachtet massiv in Frage gestellt. Das erzeugt Angst, Verunsicherung und Verdrängung, sodaß eine Auseinandersetzung mit dem verdrängten Inhalt gescheut wird, um die Illusion der intakten Familie aufrechterhalten zu können. Das erklärt, warum neben ökonomischen Gründen Angehörige innerhalb betroffener Familien Mißbrauch verschweigen und Außenstehende ihn trotz Indizien nicht wahrnehmen oder Opfer häufig nicht ernstnehmen.

Darüberhinaus erschwert nicht zuletzt die gesellschaftliche Ächtung es auch dem Opfer, sein Schweigen zu brechen. Inzest ist eine Schande, eine Blutschande. Durch Brechen des Schweigens wird dies öffentlich und die Familie befleckt. Häufig werden deswegen Opfer von ihren Angehörigen für die Ächtung verantwortlich gemacht und quasi als Schuldige betrachtet. Therapeutische Vorbehalte - etwa gegen Anzeige des Täters - leiten sich aus dieser Schlußfolgerung ab.

Die gängige Praxis des Verschweigens, Duldens und Verdrängens - meist begründet mit der Schonung des Opfers - ist untauglich zur Bewältigung des Mißbrauches und zur Rehabilitierung des Opfers. Vielmehr erhält so der Täter die Botschaft, daß er trotz rechtswidrigen Verhaltens dieses beibehalten kann. Dem Opfer wird vermittelt, daß es der totalen Macht eines Einzelnen mit stummer Zustimmung aller Mitwisser ausgeliefert ist, obwohl es im Recht wäre, was es doppelt ohnmächtig macht.

Die übliche Isolation des Opfers statt des Täters (aus der Familie) und die Therapie der Opfer sind bei aller wohlmeinenden Motivaton unweigerlich dazu angetan, das Opfer bis in alle Ewigkeit auf seine Rolle festzuschreiben, wenn gleichzeitig der Täter in keiner Weise zur Rechenschaft gezogen wird. Tatsächlich hat aber in erster Linie der Täter ein Problem.

»Ich hätte die Möglichkeit wegzuschauen und das mit professioneller Rechtfertigung, wie es so häufig geschieht.«

»Es ist notwendig, sich dem eigenen Unbehagen zu stellen, will man dem Elend und widerfahrenen Unrecht der Opfer öffentlich Gehör verschaffen und nicht der Versuchung des Schweigens erliegen.«

Claudia Schennach