september 1995

Thomas Neuhold

Zwischen Strafrecht und Therapie

In Salzburg sucht eine interdisziplinäre Arbeitsgemeinschaft nachStrategien im Umgang mit sexuellem Mißbrauch an Minderjährigen.

Bereits die Teilnehmerliste der Salzburger Arbeitsgemeinschaft »gegen sexuelle Gewalt am Kind« macht deutlich, in welche Bereiche sexueller Mißbrauch hineinspielt. Auf die Suche nach gemeinsamen Strategien machen sich RichterInnen, ÄrztInnen, PsychiaterInnen, PatientenanwältInnen, PsychologInnen, StaatsanwältInnen, SozialarbeiterInnen, ExekutivbeamtInnen und BehördenvertreterInnen. Sie alle kämpfen nicht nur gegen die Tabuisierung, sondern ringen auch um durchaus unterschiedliche Ansätze im Umgang mit sexuellem Mißbrauch.

Die PatientenanwältInnen an der Salzburger Psychiatrie - Claudia Schennach, Günter Fißlthaler und Peter Sönser - beispielsweise kritisieren, daß sexuell mißbrauchte Mädchen »keinen ausreichenden Rechtsschutz« hätten. Vielen Beteiligten »fehlt das Rechtsschutzbewußtsein.« Die drei Patientenvertreter sind immer wieder mit Fällen konfrontiert, in denen junge Mädchen nach massiver Selbstschädigung oder einem Selbstmordversuch mit eindeutigen körperlichen Symptomen oder Erzählungen, die auf einen Mißbrauch hinweisen, in der Salzburger Jugendpsychiatrie untergebracht werden. Wiederholt habe man festgestellt, daß die Ärzte in der Jugendpsychiatrie ihrer im Paragraphen 27 des Ärztegesetz festgeschriebenen Anzeigepflicht nicht nachgekommen seien.

Was Normalverbrauchern mit durchschnittlichem Rechtsempfinden einen neuen handfesten Ärzteskandal vermuten läßt, entpuppt sich als durchaus gängige Praxis. Während die Patientenanwaltschaft fordert, »daß die Ärzte von sich aus eine Sachverhaltsdarstellung an die Staatsanwaltschaft übermitteln und nicht erst auf die Patientenanwälte oder eine amtswegige Anzeige durch den Unterbringungsrichter warten«, gibt man im Salzburger Kinderschutzzentrum (KiSZ) offen zu, seit dem Bestehen »noch nie« angezeigt zu haben.

Dabei wird nicht einmal die für das KiSZ gesetzlich nicht vorhandene Anzeigepflicht ins Treffen geführt. Familientherapeut Rudolf Kronbichler nennt vielmehr »pragmatische Gründe«: Vorrangig sei die Kooperation mit den Beteiligten für die Therapie aufrechtzuerhalten. Für ein Verfahren fehlten meist Zeugen und Beweise und selbst dann komme der Prozeß meist um Jahre zu spät. Auch dürften sogenannte »Fremdmelder« wie etwa Lehrer nicht Gefahr laufen, daß aufgrund ihrer Meldung an das KiSZ jemand angezeigt werde und sie »als Vernaderer« gelten. Darüberhinaus würden viele Opfer die angebotene Hilfe nicht nur freudig annehmen: Die Mädchen wollen nicht, daß beispielsweise der Vater eingesperrt wird, »sie wollen nur, daß das aufhört; die Sehnsucht nach einem Zuhause bleibt.«

Für die Patientenanwälte ein bedenkliches Vorgehen. Sie verweisen auf die »Verhältnismäßigkeit«: Ein Vater, der etwa nach einer Scheidung die Alimente nicht pünktlich bezahlt, habe sofort die Behörde am Hals. Sexueller Mißbrauch hingegen werde nicht einmal angezeigt. Daß sich die Therapeuten auf ihre Schweigepflicht berufen können, sei ebenfalls zu thematisieren: »Es dürfen einfach zuviel Leute wegschauen!«

Trotz vieler unterschiedlicher Standpunkte dürften von der Koordinationsgruppe Impulse zur Verbesserung der rechtlichen Situation kommen. Einigkeit herrscht zwischen Therapeuten und Patientenanwälten etwa in der Feststellung eines »Rechtsschutzdefizites«: In Österreich müsse zum eigenen Schutz das Opfer selbst das gemeinsame Heim verlassen, in den USA müsse der Täter aus dem Haus, so Kronbichler. Die Anwaltschaft drängt daher - ähnlich wie in Folge von Körperverletzungen zwischen Ehepartnern - auf die Anwendung eines beschleunigten Verfahrens, um den Täter mittels »einstweiliger Verfügung« aus dem Haus zu bekommen.

Sind die Täter die Väter, müsse auch die Rechtsstellung der Mütter, die sich oft nicht hinter ihre Kinder stellten, um den verdienenden Mann nicht zu verlieren, gestärkt werden: Mit einer gerichtlichen Maßnahme - strikte räumliche Trennung und verpflichtende Therapie - könne dem begegnet werden. Anders als in Haft sei trotzdem die Möglichkeit gegeben, einer geregelten Arbeit nachzugehen.

Patientenanwältin Schennach warnt jedoch vor allzu großen Erwartungen in eine rein rechtliche Reform: Der gesellschaftliche Umgang mit sexuellem Mißbrauch Minderjähriger »spielt viel zu sehr in die heilige Familie, als daß sich da schnell etwas ändern könnte.«