oktober 1995

Barbara Neuwirth
gelesen

Jürgen Lodemann

»Der Mord. Das wahre Volksbuch von den Deutschen.« Mit Bildern von Erhard Göttlicher. Büchergilde Gutenberg, 1995.

»Beim Schach«, sagt Hagen, »sind, wie in der wirklichen Welt, nur bestimmte Bewegungen erlaubt.« Dem Gegenspieler, Siegfried, mißtraut der Wachhund seines Herrn von Anbeginn mit Zorn. Denn der Xantene symbolisiert den anarchischen Geist, Freiheit und den absoluten Unwillen zum Untertanentum. Die Tragödie entwickelt sich nach dem bekannten Muster: Siegfried freit für den schwachen Gunther seine Exgeliebte Brünhild mit Hilfe einer Tarnkappe, um Kriemhild zu gewinnen. Zwischen den Frauen eskaliert der Konflikt, der aus dem Zwang erwächst, sich über die Männer definieren zu müssen. Die Konsequenz: Mord in der Männerwelt.

Lodemanns Neufassung der Nibelungensage ist als fiktiver Originaltext aus dem 5. Jahrhundert angelegt. Sie glänzt durch Witz und die spannende Konfrontation zwischen sich etablierender (Zentral-)Macht Kirche und regionalen Strukturen. Der Unterhaltungswert wird noch vervielfacht durch die etymologischen und kommentierenden Anmerkungen des fiktiven Endübersetzers, einem Feuerwerk an Informationen, das sternspritzerartig im Text aufleuchtet.