oktober 1995

Mortiers Festspiel-Spagat

Exklusiv im kunstfehler: Die Bilanz der Jubiläums-Festspiele 95, gezogen vom Wiener Kritiker und APA-Kulturredakteur Anton Gugg

Wer eine Schlacht verloren hat, versinkt entweder in düstere Resignation oder schlägt hemmungslos um sich, weil ohnehin das den Bach hinuntergegangen ist, wofür man auf die Barrikaden stieg. Ohnmacht macht traurig oder rabiat - beides war in diesem Salzburger Festspielsommer als eine Art »Psycho-Fallstudie am Beispiel der Verteidiger des sogenannten ‘alten’ und ‘neuen’ Salzburg« exemplarisch zu beobachten.

Gerard Mortiers Intendanten-Vertrag wird bis ins nächste Jahrtausend verlängert, daran ist schon lange nicht mehr zu rütteln gewesen. Die Aussichtslosigkeit der von den bürgerlich-konservativen »Widersachern« seit Jahren betriebenen »Nörglerarbeit« hat sich im Festspiel-Finale zu journalistischen Verzweiflungstaten gesteigert. Mit hechelnder Atemlosigkeit haben »Kurier« und »Presse« Arm in Arm mit Traditions-Siegelbewahrer Marcel Prawy eine für die ins Spiel Geworfenen peinliche Mortier-Nachfolge-Diskussion konstruiert, um den »allseits verhaßten Spuk der Ära Mortier« noch im letzten Moment zu beenden (Prawy).

Das stinkt penetrant nach Exorzismus, nach Austreibung eines »Opern-Teufels«, der vorgeblichen Wiener Kulturgut-Alleinbesitzern seit Jahren in die Suppe spuckt und den Genuß an sommerlichen Opern-Vergnügungen verdirbt. In beinahe religiösem Eifer schäumen diejenigen Kräfte zusammen, die offensichtlich die Zeiten des seligen Herrn von Karajan zurückwünschen und bei ihrem eigenartigen Schulterschluß ganz und gar verdrängen, wie sie dereinst auf dies und das und nicht zuletzt auf die heutige Heiligenikone schimpften.

Mortier soll gefälligst in der Versenkung verschwinden, weil er angeblich Oper nur als Ableger des Theaters sieht, »unpassende«, nicht gerade salzburgwürdige Werke auf die Bühne stellen läßt, das Musikalische und dabei insbesondere das Sängerische vernachlässigt und Stars vergrämt: Kollektive Kritiker-Pfeilschüsse, die viel mehr auf Karajan paßten. »Carmen«, »Tosca« und »Maskenball« sind ja bedeutend und unterhaltsam, aber haben sie jemals unbedingt nach Salzburg gehört?

Sturer Greisenzorn hat eine Agnes Baltsa für lange Zeit vertrieben, und kann man sich etwa an einen Salzburger Auftritt der Jahrhundertsängerin Birgit Nilsson erinnern? Aus anderen Gründen nicht mehr im Gedächtnis sind freilich die »jungen Dinger« und Mittelklasse-Diven, die Karajan in seinen letzten Jahren mit Vorliebe in die Monumental-Prunkausstattungen der Haus- und Hof-Kulissenschneider stellte, (seinen) hohlen Repräsentations-Regien auslieferte und mit entfesselter Orchesterpower überrollte.

Was hätte Mortier denn anderes tun sollen, als den im künstlerisch sinkenden Salzburg an der Tagesordnung stehenden »Begräbnissen erster Klasse« gegenzusteuern und den post-karajanischen Totalmangel an über alle Maßen pubilkumswirksamen »Alles-Verkauf-Genies« mit »Interessantheit« zu kompensieren. Aber genau bei dieser hochriskanten Organ-Austausch-Operation in ökonomisch atemberaubenden Höhen, bei der das Substantielle das rein Kulinarische verdrängen sollte, ist der Hase in den Pfeffer gestürzt und lag dann ausgerechnet im Jubiläumsjahr ziemlich reglos da.

Das »Interessante« - ja bitte, und möglichst konsequent und kontinuierlich! Das »Schein-Interessante«, von dem die Ära Mortier bisher und auffälligerweise heuer so strotzte - nein danke! Allzu selten geht die Intendanten-Rechnung auf, nach der ein nahestehendes Grüppchen von in Brüssel »geweihten« Regisseuren »schon wieder« oder »noch einmal« aufblüht. Die Intelligenz, die dazugehört, um »noch nie gesehene« und vielleicht gar nicht geliebte Opern überzeugend oder zumindest anregend in Szene zu setzen, besitzt vielleicht noch Luc Bondy, der diesmal mit dem »Figaro« die Gemüter erregte. Herbert Wernicke hat den »Rosenkavalier« auf das Streckbett seiner »Boris«-Ästhetik gespannt und mit dieser kühnen »Vergewaltigung« erfolgreich das allseits geliebte Otto-Schenk-Barock zerschmettert.

Ganz gewiß nicht in dieser Spitzenklasse vielversprechenden, jedoch bei weitem nicht alles einlösenden Modernisierungs-Willens rangiert Peter Mussbach. Alban Bergs »Lulu« geriet bei ihrem Salzburger Einstand zum sterilen Ritual, bei dem Coolness und Langeweile austauschbare Begriffe sind. Um gut ein Jahrzehnt zu spät gab Amerikas Regie-Guru Robert Wilson sein Salzburg-Debüt: Bartoks »Herzog Blaubarts Burg« und Schönbergs »Erwartung«, zwei aufwühlende Expressionismus-Solitäre, brachten in ihrer arroganten, minimalistischen Kargheit niemanden wirklich in Wallung. Ein blitzendes, echtes Wilson-Luxus-Juwel aus dem Museum des Zeitgeistes eben, das sich jedes Festival dennoch gern an den Hut steckt - besonders, wenn Jessye Norman die Star-Produktion krönt.

Mortier und seine Freunde - sie waren bis auf eine Ausnahme nicht das erste Mal in Salzburg und werden zweifellos irgendwann wiederkommen. Hoffentlich nicht Lluis Pasqual, der aufschneiderisch seine »Traviata«-Regie mit der Restaurierung der Sixtinischen Fresken verglich und dessen »Untalent« doch nur dazu gedient haben soll, den bekanntermaßen regietheaterfeindlichen, zur Zeit umschwärmtesten Pult-Gott Riccardo Muti nicht zu vergrämen. Überhaupt diese »Traviata«-Idee. Vor einigen Jahren war die »Tränendrüsendrückerin« Mortier ebenso suspekt wie die erotischen Marschallinnen-Leiden im »Rosenkavalier«. Heuer gaben beide überaus populären Schmerz-Trägerinnen Stützpfeiler der »feministischen« Festspiel-Dramaturgie mit Opfer- und Täterfrauen der großen Oper ab.

Bei der Kritik ist fast alles mit verbalen Bomben und Granaten durchgefallen und hat in der glücklichen Alpenrepublik, die Oper als Kriegsspiel führt, zu noch nie gelesenen und gehörten medialen Entgleisungen geführt - worauf der attackierte Festspiel-Hausherr seinerseits aus den Schienen des Angemessenen sprang. Kein Wunder in einem Klima, das ihn daran mißt, inwieweit er sein Raffinement beim Essen und Trinken auch sonst umsetzt.« Da können einem weitläufigen Intellektuellen, der auch in seiner engsten Umgebung als »ebenso empfindsame wie empfindliche Mimose« gilt, schon einmal die Sicherungen durchbrennen.

Mortier kommt aus einem Kulturkreis, in dem Esprit und Sprache anders und vielleicht schärfer sprudeln als im gemütlichen Österreich mit seinen ganz besonderen Empfindlichkeiten, wenn es um Geheiligtes und Angestammtes und seit ewigen Zeiten Unverrückbares geht. Zehen, auf die er treten kann und offenbar auch gerne tritt, strecken sich ihm mehr als genug entgegen. Mimosen »auf der anderen Seite« warten nur darauf, um ihre sadomasochistischen öffentlichen Spiele starten zu können. Eines ist jedoch sicher: Ein Hirn, das im gehüteten Feinkostladen Hochkultur etwas bewegen will, war hierzulande noch nie beliebt. Schon gar nicht bei einer Generation, für die Harnoncourts intellektuelle Offenheit und Ehrlichkeit und künstlerisches Wahrheits-Verständnis eine Beleidigung der noch immer adorierten historischen Größe karajanscher Ästhetik sind.

Der lebhafte Flame sollte sich aber auch ins Stammbuch schreiben lassen, daß Austeilen auch Einstecken heißt, das große Theater bei den Salzburger Festspielen nicht erst von Peter Stein eingeführt worden ist und die Moderne schon vor »Zeitfluß« Bedeutung hatte. Wirklich nostalgisch könnte man allerdings werden, wenn man an das illustre Konzertleben früherer Jahrzehnte zurückdenkt und mit heutigen »Ärmlichkeiten« vergleicht, die zum Beispiel der über Gebühr beschäftigte Multi-Musiker Daniel Barenboim in diversen Jubiläums- und Festkonzerten vom Klavierstockerl aus lieferte. Beim Orchester-Aufkommen und an Dirigentenpulten ist leider nicht alles beim alten geblieben, und Festspiel-Liederabende sind eigentlich auch kein geeignetes Ausgedinge für stimm-geriatrische Fälle wie Hermann Prey und Peter Schreier, die sich mit inneren Durchhalte-Parolen absolut nichts Gutes tun.

Das sogenannte »neue« Salzburg trägt genug abgetragene und sogar schleißige Hüte, die endlich entrümpelt und nicht mit Stars aufgeputzt gehören wie der »Voss-Jedermann«. Mortier hat Hirn und Klaue dazu, muß aber auch ein »Schlangenmensch« sein, um sich nicht beim Spagat zwischen Höchstpreis-Festival und Publikums-Verjüngung die Knochen zu brechen. Österreichs Medien starren unterdessen lustvoll in die Hyperhochkultur-Zirkuskuppel, brechen in Dauerhymnen aus wie »News« oder treten in der Mehrzahl nach dem Hinterteil des obersten Kulturmanagers. Solange die Politiker für Mortier das Sicherheitsnetz spannen, ist gottlob mit einem Genickbruch beim Salto mortale nicht zu rechnen.

Die Aussichtslosigkeit der von den bürgerlich-konservativen »Widersachern« seit Jahren betriebenen »Nörglerarbeit« hat sich im Festspiel-Finale zu journalistischen Verzweiflungstaten gesteigert.

Wirklich nostalgisch könnte man allerdings werden, wenn man an das illustre Konzertleben früherer Jahrzehnte zurückdenkt und mit heutigen »Ärmlichkeiten« vergleicht.