november-dezember 1995

Harald Friedl
gelesen

Elisabeth Young-Bruehl

»Anna Freud. Eine Biographie. 1. Teil: Die Wiener Jahre.« Übersetzt von Maria Clay-Jorde. Wiener Frauenverlag, 1995, 373 S.

Der Band umfaßt den Zeitraum von Anna Freuds Geburt bis zu den Vorbereitungen zur Emigration der Familie im Jahr 1938. Schwerpunkte: ihre berufliche Orientierung hin zur Psychoanalytikerin und die von großer Offenheit und gegenseitiger Abhängigkeit geprägte Beziehung zum Vater Sigmund.

Mit 14 erhält sie von ihm die erste Einweisung in die Psychoanalyse und sie darf, auf der Bibliothekstreppe sitzend, den Diskussionen der Wiener Psychoanalytischen Vereinigung lauschen. Sie wird seine Vertraute und Sekrtärin und später sogar seine Analysandin. Neben dem übermächtigen Vaterbild kann kein anderer Mann bestehen. Auch in der Sublimierung von Libido in Arbeit sind Vater und Tochter einander ähnlich. Wofür der Vater die Tochter bedauert.

Das Buch zeichnet als Hintergrund auch die Entwicklung der jungen Psychoanalyse mit (an deren Fortsetzung Anna schließlich selbst bedeutenden Anteil haben sollte). Alte Weggefährten ziehen sich zurück, etwa C.G.Jung, neue treten hinzu, etwa Wilhelm Reich. Von den anregenden Freundschaften ist besonders die mit Lou Andreas-Salomé, einer früheren Gefährtin Rilkes und Nietzsches, für Anna von Bedeutung.

Nebenbei erfaßt man auch einiges von der jüdischen Kultur. Etwa von den Konflikten europäischer Juden zwischen Nationalismus und intrakultureller Solidarität nach dem 1. Weltkrieg.

Bald nach der Naziinvasion fragt Anna den Vater: »Wäre es nicht besser, wenn wir uns alle das Leben nähmen?« Darauf Siegmund: »Warum? Weil sie gerne möchten, daß wir das tun?« Doch zum Verhör durch die Gestapo nimmt Anna »genügend Veronal« mit.

Band 2 mit Schwerpunkt auf der wissenschaftlichen Arbeit Anna Freuds erscheint diesen Herbst.